45² = 2025. Schon wieder ein Jahr kaputt: Neue Regierung, neuer Kanzler, alte Probleme und für vieles nach wie vor keine Lösungen. (Nicht nur) Im Osten Europas ist immer noch Krieg, und im Weißen Haus sitzt schon wieder der Verrückte. Den Begriff Effizienz können immer weniger richtig buchstabieren, vor allem im Gesundheitswesen. Und sogenannte Prävention macht immer mehr kaputt. Höchste Märklin-Eisenbahn für eine Jahresrückblicks-und-Ausblicks-Episode.
Spoiler: Diese Episode ist kein klassisches „Was war 2025?“. Wir machen weniger Chronologie, vielmehr etwas Orientierung: Wo stehen wir in der medizinischen Wissenschaft, der Gesundheitspolitik, dem Gesundheitssystem? Und was davon wird uns mit großer Sicherheit auch 2026 (ff.) weiter beschäftigen?
Plus für alle hier: die Zusammenfassung unseres Gesprächs und natürlich die Literatur.
Das Plus für alle Unterstützer zu dieser Episode:Schreibt uns: podcast@evidenzupdate.de
Unser etwas längeres Gespräch, das wir am 27. Dezember aufgezeichnet haben, zusammengefasst in einigen Absätzen und für alle, die springen mögen:
00:00:00 Intro
00:03:24 Überblick
00:05:47 EvidenzUpdate x 164
00:09:46 Evidence Now
00:18:19 Pläne für 2026
00:23:02 Dank
00:23:23 Der rote Podcast-Faden 2025
00:28:16 Über jedes Stöckchen?
00:37:04 System-Aspekte
00:45:33 Politischer Jahresrückblick und ein PICO-Versuch
00:55:40 Zwei große Probleme
01:00:41 Zwei große Baustellen
01:10:34 Zwei politische Phantome
01:15:49 Die Surrogatpolitik und ein Fazit
01:21:25 Schöne Sachen
01:26:15 Ein Strich, Mut und Ecken
Lese- und Hörtipps
Der Professor hat drei Lesetipps und einen Hörtipp:
Die Weihnachtsansprache von Bundespräsident Steinmeier (die kann man auch hören und gucken).1
Das 2008er Büchlein von Hans-Joachim Simm (Hrsg.): Lektüre zwischen den Jahren: Glückliche Einfälle (gibt es noch antiquarisch).2
Frisch erschienen von Ullrich Fichtner, und nicht nur für Organisten lesenswert: Die Macht der Musik. Über ihre Kraft, unser Leben glücklicher und unsere Gesellschaft gerechter zu machen.3
Die 2006/07er-Einspielung von Bachs Weihnachtsoratorium im Wiener Musikverein, dirigiert von Nikolaus Harnoncourt. Die Platte gibt es nicht nur als CD, sie ist auch in den meisten üblichen Musik-Abo-Diensten hörbar (Werbung machen wir für die aber nicht!).4
Der Redaktör von uns hat wenigstens einen Hörtipp:
Natürlich eine Podcast-Episode, aus Das Politikteil der ZEIT das Gespräch mit dem Amerikanisten und Historiker Volker Depkat vom 26. September. Das Thema (Sind die USA auf dem Weg zum Faschismus?) klingt düster, aber das Gespräch ist ungemein erhellend und tatsächlich inspirierend.5
Gleich zwei Errata
Im Gespräch ordnen wir das Bonmot, dass Menschen, die ins Kaffeehaus gehen, allein sein wollen, aber dazu Gesellschaft brauchen, fälschlich Ernst Jandl zu. Es war natürlich der österreichische Schriftsteller Alfred Polgar, der das übers Café Central geschrieben hat. (Asche aufs Häuptchen, der Redaktör hätte es doch wissen müssen!)
Und das Akronym SFB wollen wir auch noch übersetzen: Sonderforschungsbereiche.
Eine kleine Introspektion
Nein, die Episode soll keine Nabelschau sein. Dennoch: Dieser Jahresrückblick ist Episode Nummero 164 (seit dem Bestehen ab März 2020). Das darf man ein wenig feiern. 🎉 Allein seit Juli haben wir 26 Folgen publiziert, im Schnitt eine pro Woche. Und die nächsten Folgen sind schon im Kasten.
Wir verstehen das EvidenzUpdate nicht als Strohfeuer, auch nicht als Silvesterknall, sondern eher als Dauerlicht, kleine, regelmäßige Evidenz-Impulse im Nebel all des Bullshits. Selten spektakulär, aber hoffentlich hie und da orientierend und manchmal auch inspirierend und/oder zum Schmunzeln.
Dass sich Dinge wiederholen, nehmen wir in Kauf, Redundanz ist kein Makel, bisweilen sogar nötig. Um Angela Merkel zu zitieren: Wenn es uns selbst zu den Ohren herauszukommen beginnt, kommt es langsam erst bei jenen an, die man erreichen will. Und ganz nach Max Weber ist es das „starke langsame Bohren dicker Bretter, mit Leidenschaft und Augenmaß zugleich“.
Übrigens: Ohne die vielen Stimmen, die sich in unsere Episoden wagen, wäre das EvidenzUpdate nicht denkbar. Ein großer Dank geht für 2025 an Günther Egidi, an David Klemperer, Thomas Lempert und Niklas Schurig, an Thomas Maibaum, an Thomas Duning, an Verena Vogt, an Thomas Kötter, an Jean-François Chenot. Danke für all die tollen Gespräche! 😍
Was, bitte, ist Evidence Now Media?!
Ein wichtiger Meilenstein für uns war in diesem Jahr die Neuaufstellung des Podcasts. Wir haben das EvidenzUpdate aus der Ärzte Zeitung (wo wir ihn begonnen haben und einer von uns, der Redaktör, bis April Chefredakteur sein durfte) herausgelöst und mit der Evidence Now Media auf eigene Füße gestellt. Nicht aus Eitelkeit, nicht aus Profitstreben, sondern aus drei pragmatischen Gründen:
Inhaltliche und organisatorische Freiheit und Unabhängigkeit
Rechtliche Absicherung: wer kritisch publiziert, braucht ein stabiles Dach
Perspektive auf Professionalisierung, ohne Abhängigkeit von Fremdinteressen
Steckt in den Podcast-Episoden vor allem viel unserer (Frei-)Zeit, stecken hinter der Evidence Now Media und dem Betrieb des Podcasts unsere privaten Geldbörsen. Technik und Transkripte, Plattformen und Post-Production (nur eine Auswahl) finanzieren wir privat. Deshalb haben wir Unterstützerabos eingeführt und freuen uns über alle, die uns mit einem kleinen Beitrag unterstützen. Ein großer Dank an alle, die 2025 das Abo-Knöpfchen gedrückt haben! 🥰
Und wir danken unseren institutionellen Förderern, die Verbündete unserer Sache sind und hinter uns stehen. Seit Anbeginn ist die DEGAM dabei, mit der wir den Podcast seinerzeit gegründet haben, und ab 2026 sind auch KIRINUS und die Videoclinic am Start. Willkommen im Club!
Wichtig ist uns eine klare Linie: Förderung ist kein Sponsoring. Kein Einfluss auf Inhalte, keine Hinterzimmer-Agenda, keine roten Linien. Wir folgen den einschlägigen Positionen zum Sponsoring von Fortbildungen der DEGAM und laden nur grüne Förderung ein.6
Ein Blick nach vorn:
Auf expliziten Hörer:innen-Wunsch wollen wir künftig für ausgewählte und klinisch relevante Episoden die Zertifizierung als Fortbildung mit CME-Punkten beantragen. 🎓 Selbstverständlich ohne jedes Sponsoring! Details dazu folgen bald.
Künftig werden unsere Episoden und Artikel auch DOIs bekommen (der Suffix ist uns schon zugeteilt 💪), und wir arbeiten an der Anbindung der Metadaten an Crossref – dann sind alle Inhalte auch wissenschaftlich zitierfähig.
An weiteren Ideen mangelt es uns nicht. 2026 wird spannend!
Die roten Fäden von 2025
Inhaltlich hat sich über die vielen Episoden im ausgehenden Jahr ein Muster gezeigt:
Unser Problem ist nicht der Mangel an Studien, sondern der Umgang mit ihnen und die Interpretation, manchmal auch bewusste Falschinterpretation.
Verzerrungen durch Interessenkonflikte, Studiendesigns und mediale Zuspitzung sind bekanntlich mehr Regel als Ausnahme.
Viele als „Durchbruch“ gefeierte Innovationen entpuppen sich bei näherem Hinsehen als klinisch marginal.
Überversorgung ist kein Betriebsunfall, sie kommt zunehmend aus der Mitte des Systems, teils sogar aus Leitlinien und sog. Präventionsstrategien.
Und denken wir bitte auch an die Attacke einiger Fachgesellschaften auf die Nationalen VersorgungsLeitlinien. Die, und das ist die gute Nachricht, habe jetzt immerhin beim Zi wieder ein neues Zuhause.
GLP-1, Lp(a), Amyloid – und Druck durch Hoffnung
Ein wiederkehrendes Thema auch dieses Jahr war das (medizinische) Agenda-Setting. GLP-1-Analoga, Lipoprotein(a), Anti-Amyloid-Antikörper sind nur drei von vielen Beispielen für einen Mechanismus, bei dem nicht Evidenz allein Themen groß macht, sondern Wiederholung, Erwartung und emotionale Aufladung. Die bloße Aussicht auf Neues (vulgo Innovation) verändert bereits heute Wahrnehmung, Nachfrage und Praxis- und Systemdruck.
Hier verstehen wir den Podcast auch als Ort zum Anlehnen: als Argumentationshilfe gegen Resignation, gegen das Gefühl, jeder Nachfrage nachgeben zu müssen, nur weil sie laut genug ist.
Vom Bedarf zur Bedürfnisorientierung
Zunehmend erleben wir ein Gesundheitswesen, das weniger bedarfs- als bedürfnisorientiert agiert. Diese Bedürfnisse werden von allen (!) Beteiligten geschürt. Das System gleicht einem Patchwork aus Fehlanreizen. Erwartung schlägt Evidenz, Hoffnung schlägt Priorisierung.
Das ist kein individuelles Versagen, sondern ein systemischer Effekt, immer wieder verstärkt durch politische Kommunikation und ökonomische Anreize.
Systemfragen: Steuerung und Priorisierung
Immer wieder landen wir bei den großen Strukturfragen: Primärversorgung nicht als bürokratische Hürde, sondern als Ort der Einordnung und Vorbeugung für die o.g. Probleme. Steuerung nicht als Kosteninstrument, sondern als Voraussetzung guter Medizin. Und vor allem: Priorisierung. Ohne sie wird es keine Gerechtigkeit geben, keine Nachhaltigkeit, keine sinnvolle Allokation.
Gesundheitspolitik 2025 vs. 2024 einmal als PICO
Im politischen Jahresrückblick versuchen wir es heuer mit einer PICO-Satire:
P: Wir – das gesamte Gesundheitswesen
I: Warketin® 10 mg/d (niedrig dosiert, bislang kaum Wirkungsnachweise)
C: Lauterbacol® 100mg 4×d. (hochfrequent, nebenwirkungsreich)
O: OS (Wir leben noch), Zeit (Kaplan-Meyer-Kurve) bis zur ersten Stukturveränderung und Effizienzsteigerung (bislang aber keine Ereignisse)
Relevant fänden wir die Politische NNT: Wie viele Reformankündigungen, Talkshow-Auftritte, Gesetzesentwürfe braucht es für einen der Endpunkte? Man könnte die Politik-NNT auch LNG nennen: Laws Needed to Good.
Studiendesign wäre wohl ein prospektiver Cross-over, open-label natürlich, ein offenes Follow-up (bisher 4 Jahre und ein knapper Monat); (v)erblindet wären vielleicht einige Politiker; in jedem Fall würden wir sie als ITT auswerten wollen, Per-Protocol wäre sinnlos, da wir unter beiden Therapien ein heftiges Lost-to-follow-up erleben.
Nein, mit dem Klamauk wollen wir keine Personen in der Politik abwerten. Wir wollen Politikstile sichtbar machen: viel moralische Aufladung und mediale Präsenz versus (durchaus wohltuende) Zurückhaltung, bislang allerdings mit offenem Ausgang, was reale Strukturveränderungen angeht.
Finanzen, Krankenhausreform, Primärversorgung
2025 war geprägt von Großbaustellen, für die es entweder nach wie vor keine Baupläne gibt (Finanzierung, steigende Beiträge trotz Entlastungsrhetorik),7 oder bei denen erste Rohbauten wieder eingerissen werden (KHAG vs. KHVVG, Konflikte mit den Ländern). Die neue Bundesgesundheitsministerin steht im Kreuzfeuer widerstreitender Erwartungen.
Dann kommt auch noch (pünktlich zum Weihnachtsfest, was ein Timing!) das Kanzleramt um die Ecke und fährt der Ministerin mit mehr oder weniger klugen Ratschlägen in die Parade.8 Ja, Frau Warken kann einem in der Tat etwas leidtun.
Besonders problematisch aber finden wir das Framing: Strukturfragen werden als Sparfragen verhandelt. Politik verliert sich in Surrogaten, wie im Übrigen auch die merkwürdige Stadtbild-Debatte gezeigt hat.9 Das unterminiert Akzeptanz und verkennt, dass vernünftige Ordnung eine wichtige Voraussetzung guter Medizin ist, nicht deren Luxus.
Zentrale Reformen stehen weiter in den Sterne, immer mehr astronomische Einheiten entfernt. Jürgen Windeler hat schon Recht mit seiner Kritik an der Sparolympiade.10 Und danke an ihn für das schöne Abholz-Schwarz’sche Zitat des „symbolhaften Handelns“.11
Unser Fazit
Wenn wir 2025 auf einen Nenner bringen müssten, dann vielleicht so: Uns (als Gesellschaft) fehlt vor allem Mut, in der Medizin etwa zur Priorisierung und zum Weglassen. 2026 wird kein Jahr der schnellen Lösungen, auch wenn es schön wäre. Wir bleiben dran und widersprechen dem erwartbaren Bullshit weiter.
Für das neue Jahr wünschen wir Euch und Ihnen alles Gute, Gesundheit, Mut und Zuversicht – und wenn letztere manchmal schwer erscheinen, dann mindestens zahlreiche Momente mit fröhlichen Gedanken und einem Schmunzeln.
Literatur
Steinmeier F-W. “Es gibt Zeichen von Hoffnung und Grund zu Zuversicht.” 2025. https://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Frank-Walter-Steinmeier/Reden/2025/12/251225-Weihnachtsansprache.html
Simm H-J, editor. Lektüre zwischen den Jahren: Glückliche Einfälle. Frankfurt a.M.: Insel Verlag 2008.
Fichtner U. Die Macht der Musik. Über ihre Kraft, unser Leben glücklicher und unsere Gesellschaft gerechter zu machen. München: DVA 2025. https://www.penguin.de/buecher/ullrich-fichtner-die-macht-der-musik/buch/9783421070487
Harnoncourt N, Schäfer C, Fink B, et al. Johann Sebastian Bach: Weihnachtsoratorium, BWV 248. deutsche harmonia mundi / Sony BMG 2007. https://www.harnoncourt.info/bach-weihnachtsoratorium-4/
Dausend P, Grabitz I, Depkat V. Amerikanische Demokratie: Sind die USA auf dem Weg zum Faschismus? https://www.zeit.de/politik/2025-09/amerikanische-demokratie-faschismus-donald-trump-politikpodcast (accessed 26 Dec 2025).
Egidi G, Wagner H-O, Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin. DEGAM-Sektion Fortbildung: Positionspapier zum Sponsoring von Fortbildungen. 2017. https://www.degam.de/fortbildung?file=files/inhalt/sektionen/fortbildung/2017_Positionspapier_Fortbildung_Sponsoring.pdf&cid=8470
Geinitz C. Die Kassen erhöhen die Zusatzbeiträge. F.A.Z. 22.12.2025;15. https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/warum-die-krankenkassen-die-zusatzbeitraege-erhoehen-110807038.html
Dunz K, Quadbeck E. Kanzleramtschef Frei: Im Gesundheitswesen müssen manche Leistungen entfallen. RND. 2025. https://www.rnd.de/politik/cdu-minister-thorsten-frei-manche-leistungen-im-gesundheitswesen-muessen-entfallen-PF7NHZYLWZCXNAFSOMIRNCB7BE.html (accessed 25 Dec 2025).
Bindler A. Es ist kompliziert: Warum die „Stadtbild“-Debatte mehr Differenzierung braucht. DIW Wochenbericht 2025;92(45):720. doi: https://doi.org/10.18723/diw_wb:2025-45-3
Windeler J. Sparolympiade – warum nur billiger, nicht besser? Observer Gesundheit. 2025. https://observer-gesundheit.de/sparolympiade-warum-nur-billiger-nicht-besser/ (accessed 17 Dec 2025).
Abholz H-H, Schwarz M. Früherkennung in Deutschland: Symbolhaftes Handeln mit schädlichen Folgen für die Gesundheit. Arbeit und Sozialpolitik 2002;56(9/10):18–22. https://kxp.k10plus.de/DB=2.1/PPNSET?PPN=545165075













