Einen schönen 4. Advent und Chanukka sameach, liebe Leute! Heute wird es herzerwärmend – und etwas länger: Mit Günther Egidi haben wir uns die neue Version 2.3 der S3-Leitlinie Hausärztliche Risikoberatung zur kardiovaskulären Prävention vorgenommen.1 Günther Egidi ist einer der Leitlinien-Autoren. Die neue Version ist im August erschienen, das Update vom Innovationsfonds gefördert worden.2 Über die Neuerungen in der Leitlinie sprechen wir in zwei Teilen. Cliffhanger: Der zweite Teil erscheint in der Weihnachtswoche. (Aufgezeichnet haben wir am 4. Dezember.)
Das erwartet uns
Nach Beschäftigung mit beiden Teilen dieser EvidenzUpdate-Episode verstehen wir,
weshalb arriba, SCORE2 und PROCAM gleichberechtigt zur Risikoabschätzung eingesetzt werden können,
weshalb für die Kalkulation des kardiovaskulären Risikos und die Indikationsstellung einer Statintherapie das im Vergleich zur Altersgruppe deutlich erhöhte Risiko relevant ist,
wieso es bei sozialen Determinanten eine Soll-Empfehlung zur kardiovaskulären Risikoberatung gibt,
weshalb Statine in der Primärprävention nur in fixer moderater Dosis und ohne weitere LDL-Kontrollen eingesetzt werden sollen und was der Unterschied zur Treat-to-Target-Strategie ist,
weshalb in der Primärprävention keine PCSK9-Hemmer und Ezetimib, Bempedoinsäure oder Fibrate nur bei tatsächlicher Unverträglichkeit von Statinen eingesetzt werden sollen,
weshalb sich der Stellenwert von ASS verändert,
wieso moderater Alkoholkonsum (das Glas Wein) nicht empfohlen werden soll,
wie die Entstehungs- und Aushandlungsprozesse interdisziplinärer S3-Leitlinien funktionieren und welchen Stellenwert und Besonderheiten Sondervoten haben.
Plus für alle hier: die Zusammenfassung unseres Gesprächs, der besprochenen Leitlinien-Empfehlungen und natürlich die Literatur.
Das Plus für alle Unterstützer zu dieser Episode:Schreibt uns: podcast@evidenzupdate.de
Für alle, die springen mögen, hier die Kapitelmarken:
00:00:00 Intro
00:01:20 Interessenerklärungen
00:02:59 Lernziele
00:05:21 Update-Speed
00:07:23 Minderheitsvoten
00:12:32 Wesentliche Neuerungen
00:16:23 Shared Decision Making
00:22:11 Ein Streit der “Kulturen”
00:24:35 Indikationsstellung
00:31:02 Risikoermittlung
00:42:26 Lessons learned Teil 1
00:42:58 Cliffhanger
Das Gespräch in a nutshell
Leitlinien als Streitplatz und „Minderwahrheitsvoten“
Unser Gespräch kommt immer wieder auf ein Wort zurück: das „Minderwahrheitsvotum“. Das ist ein interessanter Versprecher, der viel über die Leitlinienkultur erzählt. Denn: Evidenz ist in vielen Fragen schlicht nicht eindeutig, und Leitlinien sind immer auch Interpretation. Die Ambiguitätstoleranz lässt grüßen. Der Streit um Treat‑to‑Target vs. Fire-and-Forget bei der LDL‑Senkung macht das deutlich:
Es gibt nur wenige RCTs zur LDL‑Zielwert‑Titration, mit teils widersprüchlichen Ergebnissen; die LODESTAR-Studie etwa fand keinen Vorteil der Zielwert‑Strategie gegenüber fixer Hochdosis.34
Die DEGAM‑Autor:innen sehen keinen belastbaren Beleg für einen Zusatznutzen komplexer LDL‑Zielstrategien, gestehen den kardiologischen Fachgesellschaften aber zu, ihre epidemiologisch begründeten Zielwertmodelle zu vertreten.
Außerdem: Leitlinien haben eine „Halbwertszeit“, weil zwischen Evidenz und Publikation mehrere Quartale und viele Abstimmungsschleifen liegen. Mit anderen Worten: Leitlinien sind gelebte Wissenschaftskommunikation, nicht Steinplatten vom Berg Sinai.
Was methodisch neu ist
Die Version 2.3 der KVP-Leitlinie ist methodisch ein Sprung nach vorne:
Systematische Evidenzbewertung mittels GRADE, einschließlich grafischer Darstellung der Evidenzsicherheit für jede Empfehlung.
Transparente Nutzung des Cochrane Risk‑of‑Bias‑Tools, was die Nachvollziehbarkeit der Empfehlungen deutlich erhöht.
Die Leitlinie adressiert primärärztliche Strategien der kardiovaskulären Primärprävention bei erwachsenen Personen mit hohem Risiko aber ohne manifeste kardiovaskuläre Erkrankung. Die Leitlinie bettet das in einen Public‑Health‑Kontext ein, in dem Verhältnisprävention eigentlich das Rückgrat darstellen sollte. Gleichzeitig wird thematisiert, dass verhaltenspräventive, personenzentrierte Maßnahmen in der hausärztlichen Praxis arbeitsintensiv, oft weniger kosteneffektiv und sozial selektiv sind, und dass sie knappe Ressourcen binden.
Shared Decision Making als explizite Kernempfehlung
Eine Besonderheit der Leitlinie ist die eigene Empfehlung 5.2‑1 zugunsten von Shared Decision Making (SDM), was ja eigentlich Goldstandard jeder Heilkunde sein sollte. Für die Prävention heißt SDM:
5.2‑1: Entscheidungen zu Maßnahmen der kardiovaskulären Primärprävention sollen gemeinsam mit den Patient:innen getroffen werden.
5.2‑2 und 5.2‑3: Grundlage soll das globale absolute Risiko sein; für die anschauliche Darstellung des Risikos und der Effekte wird die Nutzung von arriba ausdrücklich empfohlen.
Das heißt: Verantwortung, Wissen und Ungewissheit werden mit den Patient:innen geteilt, statt Algorithmen blind zu exekutieren. Und der sogenannten Präzisionsmedizin wird bewusst ein Gegenentwurf gegenübergestellt: Präzisionskommunikation, eine sprechende und hörende Medizin, die nicht nur Daten, sondern Bedeutung vermittelt.
Dahinter steht ein bekannter „Kulturkampf“: Die eine Seite denkt in Grenzwerten und Triggern („LDL ≥ X, dann Statin“), die andere in Beziehung, Biografie und gemeinsam getragenen Entscheidungen. Die Leitlinie positioniert sich klar auf der Seite der Beziehungsmedizin und macht SDM nicht zur Kür, sondern zur normativen Erwartung der hausärztlichen Prävention.
KVP‑Beratung für wen – „soll“, „sollte“ oder „nicht“
In Kapitel 6 gibt es eine überarbeitete Systematik der Indikationsstellung für die kardiovaskuläre Risikoberatung (6‑1 ff.):
6‑1 und 6-2: Eine kardiovaskuläre Risikoberatung soll ab dem Alter von 35 Jahren für Menschen mit erhöhtem Risiko, sie sollte generell ab 50 Jahren anlasslos, sowie bei einem neu festgestellten Risikofaktor angeboten werden.
6‑1: „Soll“-Empfehlung für Menschen mit niedrigem Bildungsgrad oder niedrigen sozioökonomischen Status.
Hintergrund dafür ist das „Inverse Care Law“:5 Die, die am meisten bräuchten, werden von präventiven Angeboten am schlechtesten erreicht. Eindrucksvoll hat das zuletzt auch ein IQWiG‑Rapid-Report zur Inanspruchnahme von Gesundheitsuntersuchungen gezeigt.6 Deswegen müsste diese Logik eigentlich umgedreht werden:
Es wäre fast schon ein Kunstfehler, alle Patient:innen „gleich“ zu behandeln, Hochrisikogruppen müssen proaktiv und intensiver angesprochen werden.
Soziallage, Bildung, Wohnort und psychosoziale Belastung sind wesentliche Determinanten des Risikos und von Verwirklichungschancen; Prävention ist immer auch eine Allokations‑ und Gerechtigkeitsfrage.
Beeindruckend wird das illustriert durch den englischen (leider nicht auf Deutschland übertragbaren) QRISK‑Calculator, bei dem die Postleitzahl der stärkste Prädiktor für kardiovaskuläre Ereignisse ist.7 Eigentlich müsste diese sozial differenzierte Sichtweise als Querschnittsthema in vielen Leitlinien verankert werden.
arriba, SCORE2, PROCAM – Beratung nur mit arriba
Eine zweite große Neuerung betrifft die Empfehlung zur Risikoabschätzung. Die Leitlinie sagt im Kern:
7‑1: Zur Einschätzung des kardiovaskulären Risikos sollen arriba, SCORE2 oder PROCAM genutzt werden; sie werden gleichberechtigt empfohlen.
5.2‑3: Für die eigentliche Beratung soll anschließend allerdings nur arriba verwendet werden, weil es bekanntlich die grafische, partizipative Risikokommunikation unterstützt.
Hintergrund für die gleichberechtigte Empfehlung sind Erkenntnisse aus der SHIP-Studie in Mecklenburg-Vorpommern8 und einem neuen österreichischen HTA‑Bericht:9
Alle gängigen Risikorechner arbeiten unsicher und überschätzen tendenziell das Risiko, das spiegelt sich in der zurückhaltenden Sprache zur „Risikokalkulation“ in der Leitlinie.
Untereinander divergieren die Kalkulatoren weniger, als oft angenommen.
„Kalkulation“ suggeriert eine trügerische Präzision; real sind es grobe, probabilistische Abschätzungen, weshalb der Begriff „Risikoeinschätzung“ bevorzugt wird.
Im Gespräch erinnern wir uns an die früheren Sheffield-Treatment‑Tables,10 die sehr diskret und binär „du darfst/du darfst nicht Statin verordnen“ signalisiert haben. arriba ist der Gegenentwurf dazu, der Patient:innen mit ihren eigenen Präferenzen und Reaktionen ernst nimmt – vom panischen 5%-Patienten bis zur gelassenen 35%-Patientin. Gleichwohl ist die breite Medizinkultur nach wie vor auf Laborwerte fixiert, diese Leitlinie deshalb ein notwendiger Gegenpol zur Schwellenwert‑Medizin.
Bei Diabetes mellitus Typ 2 empfiehlt die Leitlinie pragmatisch (7-3), zur Risikoberechnung das gemittelte HbA1c der letzten vier Quartale zu verwenden, um Ausreißer zu glätten – eine Empfehlung, die nicht „höchstgradig evidenzbasiert“, sondern ein praxisnaher Kompromiss ist. Die Leitlinie betont, dass T2DM das Risiko erhöht, dieses aber nicht mehr kategorial als automatisch „hoch“ gewertet werden soll.
Weg vom Urin-Schnelltest, hin zur UACR mit Konsequenz
Bestätigt aber relevant sind die Empfehlungen zu den Nierenmarkern bei Diabetes:
7-4: Bei T2DM sollen Urinschnelltests auf Mikroalbumin in der Routine nicht routinemäßig durchgeführt werden.
7-5: Bei T1DM soll jährlich die Urin-Albumin-Kreatinin-Ratio (UACR) bestimmt werden, weil bei ihnen eine Mikroalbuminurie das kardiovaskuläre Risiko um etwa den Faktor 3 erhöht.
Die DEGAM war gegen die routinemäßige Mikroalbuminbestimmung auch in der früheren NVL „diabetische Nephropathie“, wegen
Zweifeln an der prädiktiven Relevanz, fehlenden zusätzlichen therapeutischen Optionen über die ohnehin weit verbreitete ACE‑Hemmer‑Therapie hinaus,
kaum bekannte, aber formal geforderte Bestätigungstests bei positivem Schnelltest, die Kosten verursachen, ohne erkennbaren Patientennutzen.
Mit der UACR-Bestimmung im Labor kann eine Indikation für SGLT2‑Hemmer (insbesondere Dapagliflozin) begründet werden, was der Testung eine konkrete therapeutische Konsequenz verleiht. Bei T2DM bleibt die Rolle begrenzter, bei T1DM ist die Relevanz für die Risikoabschätzung deutlich höher, weshalb sie hier mit „soll“ empfohlen wird.1112
Diese Empfehlungen sind ein anschauliches Beispiel für De‑Implementation und das Konzept des Reflective Practitioner:
Fortschritt besteht auch darin, nicht mehr zu tun, was keinen Nutzen hat.
Eingebrannte Routinen wie der reflexhafte Urinstreifen sind kein Qualitätsmerkmal, sondern können die eigene Arbeit entwerten, wenn sie folgenlos bleiben.
Die Metabotschaften
Nach Teil 1 des Gesprächs gibt es bewusst nur „halbes“ Fazit in Form von Practice Pointern für den primärärztlichen Alltag:
Leitlinien sind Gesprächsgrundlagen, keine Durchführungsverordnungen. Interpretation bleibt unvermeidlich, Dissens zwischen Fachgesellschaften ist Teil des Systems.
Prävention sollte am individuellen Gesamtrisiko ausgerichtet werden, nicht an Einzelwerten; Risikotools sind Werkzeuge, keine Orakel.
Shared Decision Making ist Kern der (haus-)ärztlichen Beratung und braucht Zeit, Sprache und passende Visualisierung, um Risiken und Nutzen verständlich zu machen.
Soziale Lage gehört in jede Risikoprüfung: Menschen mit niedrigem sozioökonomische Status (SES) sollten aktiv und priorisiert adressiert werden, alles andere perpetuiert die inverse Versorgung.
De‑Implementation ist Teil guter Medizin: Tests ohne plausible Konsequenz gehören auf den Prüfstand; die UACR‑Strategie zeigt, wie man diagnostische Routinen an therapeutische Optionen koppelt.
Ergo: weniger „Statindosierungen zum Mitschreiben“ als vielmehr die Haltung: weg vom Cholesterin‑Tunnelblick und hin zu einer Prävention, die Beziehung, Gerechtigkeit und Reflexion ernst nimmt.
Der Cliffhanger
In Teil 2, den wir in der Weihnachtswoche veröffentlichen, kommt es knüppeldicke: dann sprechen wir nicht nur über Statine und PCSK9-Hemmer, sondern auch über ASS, Lebensstil und Alkohol, vor allem aber über die „Minderwahrheitsvoten“ der anderen Fachgesellschaften und über die Bewertung von Biomarkern wie Lp(a).
Schöne Feiertage!
Literatur
Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin e.V. (DEGAM). S3-Leitlinie Hausärztliche Risikoberatung zur kardiovaskulären Prävention, Version 2.3, AWMF-Register-Nr. 053-024, November 2024. 2024. https://register.awmf.org/de/leitlinien/detail/053-024 (accessed 3 Dec 2025).
G-BA Innovationsfonds. LLKVP – S3-Leitlinie Hausärztliche Risikoberatung zur kardiovaskulären Prävention (01VSF22012). 2025. https://innovationsfonds.g-ba.de/projekte/llkvp.522 (accessed 3 Dec 2025).
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