Guten Morgen (?), liebe Leute! Heute müssen wir über ein riesengroßes Missverständnis sprechen: über Prävention, oder besser: über das, was aus ihr geworden ist. 😷 Dafür haben wir einen Dritten im Bunde, den wunderbaren
aus Rostock, der nicht nur interessante Literatur (s.u.) im Gepäck hat, sondern noch klügere Gedanken.Spoiler 1: Mit dieser Episode, so fürchten wir, werden wir uns nur wenige Freunde machen und womöglich sogar Schelte bekommen. Wir nehmen sie in Kauf, wenn man sich im Gegenzug mit unseren Gedanken beschäftigt.
Spoiler 2: Dieser Text hier wird etwas deftig. Er ist von einem von uns geschrieben. Das Gespräch, das es natürlich auch als Transkript gibt, ist wesentlich differenzierter.
Spoiler 3: Prävention, so wie wir sie heute betreiben, ist was ziemlich Dusseliges. Sie macht Menschen (teils unnötig) krank. Sie verstopft das Gesundheitssystem. Sie kostet Unmengen an Kohle. Sie ist zu einer Industrie geworden, die mit Angst viel Mammon verdient. Und am Ende lebt dadurch niemand länger oder gesünder, sondern haben wir vor allem mehr Morbidität und Leid produziert. Einfach:
Wir behandeln die Falschen, wir machen aus Gesunden Kranke.
Spoiler 4: Im Gesundheitssystem hat sich ein übles Dogma breitgemacht, dass Selbiges einfach nur präventiver ausgerichtet sein müsste, um später Leid (und Kosten) zu sparen. Die Idee ist gar nicht doof. Nur bis heute ist ihr kein Beweis gefolgt. Stattdessen sind aus ihr Milliarden Euro teure Screenings ohne Lebenszeitgewinn geworden, Lifestyle-Debatten oder Longevity-Trends, die vor allem zu einem führen: zur Medikalisierung einer ganzen Gesellschaft.
Spoiler 5: Dabei ist Prävention ziemlich cool, wenn man sie so versteht, dass sie die Verhältnisse ändert, damit die Menschen in ihnen gesünder leben können. Das sind nicht nur mehr Fahrradwege oder Zucker- oder Fettsteuern (was alles auch Verhalten ändert), sondern vor allem der Abbau von Ungleichheit (einem krankmachenden Verhältnis).
Bevor wir in medias res gehen hat Thomas Maibaum für alle einen Hör- und einen Lektüretipp. Der Hörtipp hat direkt etwas mit einem Teil unseres Gesprächs zu tun, nämlich TNT:
Der Lektürtipp ist ein uraltes Buch von John Berger: A Fortunate Man – The Story of a Country Doctor. Das war Ende der 1960er-Jahre bei Canongate erschienen, ist aber antiquarisch noch gut bei ZVAB oder Medimops erhältlich.
Plus für alle hier: die Zusammenfassung unseres Gesprächs und natürlich die Literatur.
Das Plus für alle Unterstützer zu dieser Episode:Schreibt uns: podcast@evidenzupdate.de
Prävention, was tun?
Unser Thema wirkt vordergründig harmlos, entpuppt sich bei genauerem Hinsehen aber als ein grundlegendes Problem moderner Gesundheitssysteme: die Hybris der Prävention. Prävention erscheint verführerisch, wird aber häufig überschätzt, und paradoxerweise überlastetet sie das medizinische System und verstärkt Ungleichheit — obwohl sie genau das Gegenteil erreichen soll.
Prävention erscheint intuitiv gut, fast schon moralisch richtig: „Je früher, desto besser“, „Vorbeugen statt Heilen“, „Ein bisschen Screening hat noch niemandem geschadet“. Doch genau diese Intuition führt in die Irre. Prävention generiert Risiken, die sie selbst erst erzeugt. Indem man Tests, Screenings und Risikobewertungen immer weiter ausweitet, macht man aus gesunden Menschen Patient:innen. Und das betrifft zunehmend Menschen, die keine Symptome, keine Beschwerden und kein hohes Risiko haben – aber nach einem Screening plötzlich Etiketten wie „prädiabetisch“, „prähypertensiv“ oder „kognitiv leicht beeinträchtigt“ tragen.
👉 Früherkennung macht erst einmal krank – ein Satz, der für viele kontraintuitiv klingt, aber die Essenz des Problems trifft, und der vor Ewigkeiten von Sir Muir Gray geprägt wurde.
Gleichzeitig verschiebt sich der Fokus der Versorgung von den wirklich Kranken zu einer riesigen Gruppe Niedrigrisiko-Menschen, die medizinisch betreut und beraten werden sollen, ohne dass dabei ein relevanter Nutzen entsteht. Genau hier liegt das sogenannte Präventionsparadoxon: 👉 Für die Gesamtbevölkerung kann Prävention statistisch einen kleinen Effekt haben, aber 👉 für das Individuum ist der Nutzen minimal, oft nicht einmal spürbar.
Und zwischen all den Lifestyle-Empfehlungen, Leitlinienanforderungen und Screeningprogrammen entsteht ein massiver Zeitbedarf, der völlig aus dem Ruder läuft. Modellierungen zeigen: Wenn Ärzt:innen alle Empfehlungen konsequent erfüllen würden, bräuchten sie 27 Stunden pro Tag – allein in der Primärversorgung. Die daraus resultierende Schlussfolgerung ist klar: Leitlinien verlangen Unmögliches.
Gleichzeitig ist Prävention nicht nur ein medizinisches, sondern auch ein soziales Problem. Sie verstärkt Ungleichheit:
👉 Gesunde, gebildete, wohlhabende Menschen nutzen Präventionsangebote überproportional.
👉 Kranke, vulnerable, sozial benachteiligte Menschen bleiben auf der Strecke.
Das ist nichts weniger als die moderne Neuauflage des Inverse Care Law von Julian Tudor Hart.
Einen Beitrag zu alldem liefert leider auch der Überwuchs der Leitlinien. Sie sind überfrachtet mit Empfehlungen, deren Evidenz zweifelhaft oder gar nicht vorhanden ist. Nur drei Prozent der Lifestyle-Empfehlungen bspw. im britischen NHS haben eine robuste Evidenzbasis, ein frappierend niedriger Wert, der dennoch kaum Konsequenzen hat. Die Mehrheit dieser Empfehlungen produziert mehr Aufwand als Nutzen. Deshalb braucht es einen „empfehlungsbasierten Detox“ in Leitlinien, eine radikale Entschlackung, die nur das enthält, was belegbar wirkt.
Hinzu kommt: Prävention wird in Deutschland (und weltweit) zunehmend wirtschaftlich aufgeladen. Longevity-Programme, Vitamin-Titer, genetische Risikoscores, Trend-Screenings. Ein riesiger Markt, der Hoffnung verkauft, aber oft Angst voraussetzt. Oder: 💬 „Für die Lösung braucht es erst ein Problem.“
Ein paar Ideen:
1. Ehrlichere, entschlackte Leitlinien
Leitlinien müssen ihre eigenen Ansprüche reduzieren. Empfehlungen nur dort, wo sie robust belegt sind. Und klare Hinweise, wo der Nutzen marginal oder ungewiss ist. Weniger Dogmatik, mehr Demut.
2. Konzentration auf die wirklich Kranken
Die zentrale Aufgabe von Ärzt:innen ist die Behandlung von Kranken. Ein System, das zu viel Energie in die Niedrigrisiko-Prävention steckt, verliert die Kranken aus dem Blick. Und es schadet damit am Ende allen.
3. Mehr Shared Decision Making
Prävention darf nie paternalistisch sein. Patient:innen brauchen ehrliche Zahlen: absoluten Nutzen, Risiken, Number Needed to Screen, Wahrscheinlichkeiten.
👉 Selbstbestimmung statt Zwang zur Vorsorge.
👉 Ambiguitätstoleranz statt Gewissheitssimulation.
4. Zeit als Ressource ernst nehmen (TNT – Time needed to Treat)
Zeit ist begrenzt. Jede Minute Präventionsberatung ist eine Minute weniger für chronisch Kranke. TNT, die Time needed to Treat, könnte ein Bewertungsmaßstab werden, um den Aufwand einer Empfehlung sichtbar zu machen. Das könnte eine Methode für Leitlinien und Nutzenbewertungen (Health Technology Assessments) werden.
5. Verhältnisprävention statt Individualprävention
Die eigentlich wirksame Prävention ist politisch:
🚲 Radwege
🚭 Tabakpolitik
💶 Verringerung sozialer Ungleichheit
🍎 gesündere Ernährungssysteme
🏘 bessere Wohnbedingungen
Diese Maßnahmen wirken stärker als jedes Screening. Aber: Sie bringen kein Geld, also geraten sie in den Hintergrund.
💡 Die meisten Menschen sind gesünder, als sie denken — und gesünder, als man ihnen einreden will.
Literatur
Hauschild J. Früherkennung psychischer Krankheiten: Ein Frühwarnsystem für die Psyche. DIE ZEIT. 2025. https://www.zeit.de/gesundheit/2025-10/frueherkennung-psychische-krankheiten-praevention-depression?freebie=c5f2f7f2 (accessed 12 Oct 2025).
Grabbe H, Spiewak M. Dein Sohn wird krank. Nur wann? Die Zeit. 17.07.2025;28–9. https://www.zeit.de/2025/30/diabetes-frueherkennung-blutzucker-diagnostik-praevention
Ziegler A-G, Cengiz E, Kay TWH. The future of type 1 diabetes therapy. Lancet2025;406(10511):1520–34. doi: https://doi.org/10.1016/s0140-6736(25)01438-2
Martin SA, Johansson M, Heath I, et al. Sacrificing patient care for prevention: distortion of the role of general practice. BMJ 2025;388:e080811. doi: https://doi.org/10.1136/bmj-2024-080811
Albarqouni L, Ringsten M, Montori V, et al. Evaluation of evidence supporting NICE recommendations to change people’s lifestyle in clinical practice: cross sectional survey. BMJ Med2022;1(1):e000130. doi: https://doi.org/10.1136/bmjmed-2022-000130
Johansson M, Niklasson A, Albarqouni L, et al. Guidelines Recommending That Clinicians Advise Patients on Lifestyle Changes: A Popular but Questionable Approach to Improve Public Health. Ann Intern Med 2024;177(10):1425–7. doi: https://doi.org/10.7326/annals-24-00283
Moynihan R, Brodersen J, Heath I, et al. Reforming disease definitions: a new primary care led, people-centred approach. BMJ Evidence-Based Medicine 2019;24:170–3. doi: https://doi.org/10.1136/bmjebm-2018-111148
WONCA Europe. WE talk with Minna Johansson “Who wants to work 27 h a day? - Time Needed to Treat (TNT).” 2024. https://evide.nz/QxuQ0 (accessed 13 Oct 2025).
Group SR, Lewis CE, Fine LJ, et al. Final Report of a Trial of Intensive versus Standard Blood-Pressure Control. New Engl J Med 2021;384(20):1921–30. doi:https://doi.org/10.1056/nejmoa1901281
Amarenco P, Kim JS, Labreuche J, et al. A Comparison of Two LDL Cholesterol Targets after Ischemic Stroke. N Engl J Med 2019;382(1):9–19. doi: https://doi.org/10.1056/nejmoa1910355
Maron DJ, Hochman JS, Reynolds HR, et al. Initial Invasive or Conservative Strategy for Stable Coronary Disease. N Engl J Med 2020;382(15):1395–407. doi: https://doi.org/10.1056/nejmoa1915922
Bretthauer M, Løberg M, Wieszczy P, et al. Effect of Colonoscopy Screening on Risks of Colorectal Cancer and Related Death. N Engl J Med 2022;387(17):1547–56. doi: https://doi.org/10.1056/nejmoa2208375
Hart JT. THE INVERSE CARE LAW. Lancet 1971;297(7696):405–12. doi: https://doi.org/10.1016/s0140-6736(71)92410-x
Porter J, Boyd C, Skandari MR, et al. Revisiting the Time Needed to Provide Adult Primary Care. J Gen Intern Med 2023;38(1):147–55. doi: https://doi.org/10.1007/s11606-022-07707-x
Ramachandran R. Evidence and opportunity costs of lifestyle interventions in clinical medicine.BMJ Med 2022;1(1):e000336. doi: https://doi.org/10.1136/bmjmed-2022-000336
Korownyk C, McCormack J, Kolber MR, et al. Competing demands and opportunities in primary care. Can Fam physician Med Fam Can 2017;63(9):664–8.
Spence D. The treatment paradox. BMJ 2008;336(7635):100–100. doi: https://doi.org/10.1136/bmj.39454.622824.94
Johansson M, Guyatt G, Montori V. Guidelines should consider clinicians’ time needed to treat. BMJ2023;380:e072953. doi: https://doi.org/10.1136/bmj-2022-072953
Scherer M, Burgers JS, Group the GINMW. Is ‘too much medicine’ a guideline‐driven phenomenon? Ten years’ report and reflections of the Guidelines International Network Multimorbidity Working Group. Clin Public Heal Guid 2024;1(3). doi: https://doi.org/10.1002/gin2.12016
Rudebeck CE. Relationship based care – how general practice developed and why it is undermined within contemporary healthcare systems. Scand J Prim Health 2019;37(3):1–10. doi: https://doi.org/10.1080/02813432.2019.1639909















