„Hannover“ hängt uns noch immer nach, bestenfalls aber positiv. Ein Lapsus, nämlich in einem Gespräch (über die neuen Anti-Amyloid-Antikörper) unsere Interessen nicht dargelegt zu haben, hat Folgen: Seither veröffentlichen wir die Interessenerklärungen von uns und unseren Gästen. Wir vermuten, dass wir der wohl einzige medizinische Podcast hierzulande sind, der das tut. Und die zweite Folge ist diese heutige Podcast-Episode: Ein Gespräch zu fünft (!) über die strukturelle Verwundbarkeit der modernen Medizin, nämlich über Interessenkonflikte. Dieses Gespräch führt uns (Spoiler!) in den methodischen und auch in einen kulturellen Kaninchenbau.
Jedenfalls haben wir großartige Menschen für das Gespräch gewonnen, das wir am 21. November aufgezeichnet haben:
David Klemperer, Internist, der lange zur Sozialmedizin und Public Health geforscht und gelehrt hat und dessen großes Steckenpferd neben der EbM auch Interessenkonflikte sind.
Thomas Lempert, Neurologe, der unter anderem die Initiative NeurologyFirst mitgegründet hat und bei Leitlinienwatch.de den Autoren medizinischer Leitlinien kritisch auf die Finger bzw. Interessenkonflikte schaut.
Niklas Schurig, Allgemeinmediziner, der sich auch bei Leitlinienwatch.de und für sponsorfreie CME-Fortbildung engagiert, und der bei MEZIS, der Ärzt:innen-Initiative für mehr Transparenz und gegen Einflussnahme im Gesundheitswesen, im Vorstand tätig ist.
Plus für alle hier: die Zusammenfassung unseres Gesprächs und natürlich die Literatur.
Das Plus für alle Unterstützer zu dieser Episode:Schreibt uns: podcast@evidenzupdate.de
In guter neuer Tradition hier die Kapitelmarken für alle, die „springen“ mögen:
00:00:00 Intro
00:01:29 Interessenerklärungen
00:04:29 Ein „Werbeblock“
00:07:58 Hannover
00:15:06 Das Problem
00:25:24 Eine Lösung und ein Dilemma
00:27:58 David gegen Goliath
00:30:42 Die Causa Fox
00:39:44 Was sagt die Literatur?
00:45:25 Und die Fachgesellschaften?
00:47:45 Leitlinienwatch
00:52:08 Alles nur Moralin?
00:54:16 Key takeways
00:57:51 Cliffhanger
Der „Werbeblock“
Erstmals gibt es im EvidenzUpdate einen kleinen Werbeblock: Denn im August ist die 80. – in Worten: achtzigste (!) – Version des Living-e-Books Corona verstehen – evidenzbasiert erschienen, das David Klemperer seit Beginn der Pandemie gemeinsam mit Joseph Kuhn und Bernt-Peter Robra herausgegeben hat.1
Der „Hannover-Moment“
Der Auslöser für unser gemeinsames Gespräch liegt zwei Monate zurück, es ist die Live-Episode aus Hannover. Und die Frage, die hätte gestellt werden müssen, aber nicht gestellt wurde: Welche Interessen bringt unser Gast und bringen wir mit?
David Klemperer saß damals im Publikum. Er sagt: „Ich habe vermisst, dass man seine Verbindungen nennt. Nicht, weil es verwerflich wäre, sondern weil es hilft zu verstehen, warum jemand bestimmte Fragen stellt oder eben nicht stellt.“
Niklas Schurig nennt es unprofessionell, wenn Referenten nicht offenlegen, dass sie Honorare erhalten vom Hersteller einer Arznei, über die sie sprechen. Und ein wenig war er auch vom EvidenzUpdate enttäuscht, „weil ich gedacht hatte, EvidenzUpdate bringt eben Leute, die in der Leitlinie drin sind, aber den kritischen Blick haben“.
Diese Szene ist uns zur Lehre geworden: Selbst in einem Podcast, der sich mit evidenzbasierter Medizin beschäftigt, können blinde Flecken entstehen.
Wie groß ist das Problem?
Für Thomas Lempert ist die Sache größer, nämlich die „durchgängige Verflechtung der Meinungsführer in all den Fächern, wo es mit Medikamenten Geld zu verdienen gibt“. Oder so: „Der dominante Diskurs wird von industrienahen Leuten geführt, nicht nur in Industriesymposien, sondern im Hauptprogramm.“
Niklas Schurig darf als Vorstandsmitglied von MEZIS harte Positionen formulieren, etwa diese: „Wenn wir es vorher wissen, laden wir solche Leute gar nicht erst ein. Transparenz ist der erste Schritt, aber reicht nicht aus.“
Und David Klemperer verweist auf juristische Maßstäbe und zitiert aus einer Begründung eines Urteils des Bundesgerichtshofs: „Misstrauen bezüglich der Befangenheit ist gerechtfertigt, wenn Umstände Anlass geben, daran zu zweifeln.“
Interessen sind oftmals themenspezifisch, in der Leitlinienarbeit sind (bzw. wären) bspw. selektive Enthaltungen umsetzbar. Dafür haben die AWMF-Regelwerke solide Empfehlungen, nur werden die oft weich interpretiert.
Oder anders: Die Probleme entstehen aber dann, wenn medizinische Fachgesellschaften ihre eigenen Regeln nicht ernst nehmen. Das ist auch eine Frage von Kultur. Und von Integrität!
BEAUTIFUL, SIGNIFY – Fox und 70 Millionen
Ein zweiter, mehr oder weniger aktueller Anlass für unser Gespräch sind die bekanntgewordenen Umstände um Kim Fox, einem britischen Kardiologen und Lead Investigator großer Studien zu Ivabradin (Procoralan®, Generika). Die Geschichte ist so krass, dass sie fast wie ein Theaterstück wirkt, nur leider ist sie real:
Kim Fox, Kardiologie-Emeritus am Imperial College London, war einer der Lead Investigators u.a. der wichtigen Ivabradin-Zulassungsstudien BEAUTIFUL und SIGNIFY.234
Und wenn man sich schon so gut mit dem Medikament auskennt, warum sollte man sich dann nicht auch als Leitlinienautor engagieren? So muss es auch Fox gesehen haben: 2006 war er Erstautor der damaligen ESC-Leitlinie zum Management der stabilen Angina pectoris. Darin wurde Ivabradin als „mögliche Alternative zur Betablockade“ empfohlen.5
Knüppeldicke kommt's aber erst jetzt: Fox gehörten auch Anteile einer Firma, der Heart Research Ltd., die klinische Studien im Auftrag von Sponsoren durchgeführt hat. Das ist erst einmal nichts Außergewöhnliches. Nur soll eben genau diese Firma Teile der o.g. Studien im Auftrag des Ivabradin-Herstellers Servier durchgeführt haben.
Ein dänisches Rechercheteam hat im September 2024 aufgedeckt,67 dass Fox von dieser „seiner“ Firma rund 3 Mio. EUR Gehalt bezogen haben soll und die Firma mit den Ivabradin-Servier-Studien rund 70 Mio. EUR Gewinn gemacht haben soll.
Einfach ausgedrückt: Ein Kardiologe untersucht eine neue Arznei im Auftrag des Herstellers, schreibt dann auch noch die „Leitlinie“ dazu selbst und kassiert dafür 70 Mio. EUR.
Immerhin: Im Sommer 2025 hat die European Society of Cardiology (ESC) Fox daraufhin ausgeschlossen.8
Martin Scherer: „Das ist kein kleiner Interessenkonflikt mehr, das ist Champions League. Oder: Korruption.“
Nur reicht das Problem (nicht nur) bei der ESC bekanntlich weiter. Auch wenn die Fachgesellschaft Fox ausgeschlossen hat, hat die europäische Kardiologie offenbar ein Strukturproblem. Niklas Schurig: „Die ESC hat seit Jahrzehnten katastrophale Leitlinien. Die Interessenkonflikterklärungen sind länger als die Leitlinien selbst.“
Und dass die Deutsche Gesellschaft für Kardiologie (DGK) diese Leitlinien seit jeher und nach wie vor unkritisch übernimmt, während sie gleichzeitig etwa die NVL KHK ablehnt und auf die Kritik an ihrer Kritik kaum bis nicht reagiert,9 das lässt uns etwas sprachlos zurück.
Mit Blick auf die AWMF-Vorgaben hierzulande hat David Klemperer wenigstens eine gute Nachricht: „Fox könnte in Deutschland nicht passieren. Er dürfte gar nicht aufgenommen werden.“
Side step
Eine eigene Episode wert wäre eine sehr lesenswerte Arbeit von Sabine Gehrke-Beck et al., veröffentlicht im Deutschen Ärzteblatt, zum Einfluss von Industrievertretern auf Autorinnen und Autoren von Leitlinien.10 Die dort zitierten Aussagen sprechen Bände.
Wer die Umstände von Interessen und Interessenkonflikten tiefer ergründen will, dem oder der sei an dieser Stelle das Buch von Klaus Lieb, David Klemperer und Wolf-Dieter Ludwig empfohlen,11 sowie ein Kapitel der drei gemeinsam mit Hannah Kuhn im Handbuch Korruptionsforschung.12
Was sagt die Literatur?
Wenn wir im EvidenzUpdate so vortrefflich über Interessenkonflikte nachdenken, gehörten in der Tat schon ein paar Belege dazu, dass Interessenkonflikte überhaupt einen nennenswerten Einfluss haben. Wir haben – ganz narrative – ein wenig in der rezenten Literatur gestöbert und drei Arbeiten herausgepickt:
JAMA: 90 % industriegesponserter Studien liefern sponsorfreundliche Ergebnisse.13
BMJ Open: Die Forschung unterscheidet kaum zwischen den verschiedenen Arten von Interessenkonflikten; das ist eine offene Forschungsfrage.14
Cochrane: Die in gesponserten vs. nicht-gesponserten Publikationen veröffentlichten Daten unterscheiden sich kaum – aber der Tonfall deutlich.15
Was tun?
Das Brett ist dick, sehr dick, aber es gibt Hebel:
AWMF-Regelwerk weiter schärfen
Mehr unbefangene Autor:innen rekrutieren
Klare Enthaltungsregeln
Leitlinienwatch.de als Druck- und Transparenzinstrument („Wir sitzen nicht am Tisch, aber alle wissen, dass wir mitlesen.“)
Industriefreie Fortbildungen (CME-sponsorfrei.de)
Evidenzbasierte Methoden müssen Vorrang bekommen
Lese- und Hör-Tipps
Für alle, die nicht genug bekommen können, haben wir (neben der Literatur unten) hier ein paar weitere Lektüre- und Hör-Tipps:
Leitlinienwatch.de
Das Transparenzportal für medizinische BehandlungsleitlinienAWMF-Regelwerk Leitlinien
Leitlinie zur Erstellung und Publikation aktueller und hochwertiger LeitlinienAWMF-IK-Empfehlungen
Erklärung von Interessen und Umgang mit InteressenkonfliktenAktionsbündnis Fortbildung 2020
Plattform für ärztliche Fortbildung ohne industrielles SponsoringLecanemab und Donanemab: Hoffnung, Hype oder Überforderung?
Unsere Episode aus HannoverKommerz und Entkopplung – die Krise der akademischen Medizin
Unsere Episode die über die „Vision 2050“ und die Zukunft der Medizin-Fakultäten
Literatur
Klemperer D, Kuhn J, Robra B-P. Corona verstehen – evidenzbasiert Living eBook Version 80.0, Stand 17.8.2025. 2025. https://corona-verstehen.de/Klemperer_Corona_80.0.pdf
Beautiful Study Group, Ferrari R, Ford I, et al. The BEAUTIFUL Study: Randomized Trial of Ivabradine in Patients with Stable Coronary Artery Disease and Left Ventricular Systolic Dysfunction – Baseline Characteristics of the Study Population. Cardiology 2008;110(4):271–82. doi: https://doi.org/10.1159/000112412
Fox K, Ford I, Steg PG, et al. Ivabradine in Stable Coronary Artery Disease without Clinical Heart Failure. N Engl J Med 2014;371(12):1091–9. doi: https://doi.org/10.1056/nejmoa1406430
Fox K, Ford I, Steg PG, et al. Ivabradine for patients with stable coronary artery disease and left-ventricular systolic dysfunction (BEAUTIFUL): a randomised, double-blind, placebo-controlled trial. Lancet 2008;372(9641):807–16. doi: https://doi.org/10.1016/s0140-6736(08)61170-8
Fox K, Garcia MAA, Ardissino D, et al. †Guidelines on the management of stable angina pectoris: executive summary. Eur Hear J 2006;27(11):1341–81. doi: https://doi.org/10.1093/eurheartj/ehl001
Høj L. Toplæge har tjent en halv milliard kroner på medicinalfirma. TV 2. 2024. https://nyheder.tv2.dk/samfund/2024-09-24-toplaege-har-tjent-en-halv-milliard-kroner-paa-medicinalfirma
Høj L. Hjertelæger vil undersøge sig selv efter TV 2-dokumentar. TV 2. 2024. https://nyheder.tv2.dk/samfund/2024-09-30-hjertelaeger-vil-undersoege-sig-selv-efter-tv-2-dokumentar
Dyrberg R, Mikkelsen JA. Forgyldt toplæge smidt ud efter TV 2-afsløring. TV 2. 2025. https://nyheder.tv2.dk/2025-08-15-forgyldt-toplaege-smidt-ud-efter-tv-2-afsloering
MEZIS e.V., NeurologyFirst. Offener Brief: Aufruf zur Rückkehr zur evidenzbasierten Leitlinienarbeit im Rahmen der AWMF. 2025. https://mezis.de/wp-content/uploads/2025/11/MEZIS_NeurologyFirst_Offener-Brief-an-DGIM-DGK-und-DGPR_2025-09-22.pdf
Gehrke-Beck S, Krüger K, Holzinger F, et al. Contacts of health care companies with guideline coordinators—a cross-sectional survey. Dtsch Ärzteblatt Int 2025;122(1):21–2. doi: https://doi.org/10.3238/arztebl.m2024.0184
Lieb K, Klemperer D, Ludwig W-D. Interessenkonflikte in der Medizin, Hintergründe und Lösungsmöglichkeiten. 2011;3–9. doi: https://doi.org/10.1007/978-3-642-19842-7
Kuhn H, Klemperer D, Lieb K, et al. Handbuch Korruptionsforschung. 2025;1–14. doi: https://doi.org/10.1007/978-3-658-42592-0_40-1
Siena LM, Papamanolis L, Siebert MJ, et al. Industry Involvement and Transparency in the Most Cited Clinical Trials, 2019-2022. JAMA Netw Open 2023;6(11):e2343425. doi: https://doi.org/10.1001/jamanetworkopen.2023.43425
Graham SS, Karnes MS, Jensen JT, et al. Evidence for stratified conflicts of interest policies in research contexts: a methodological review. BMJ Open 2022;12(9):e063501. doi: https://doi.org/10.1136/bmjopen-2022-063501
Hansen C, Lundh A, Rasmussen K, et al. Financial conflicts of interest in systematic reviews: associations with results, conclusions, and methodological quality. Cochrane Database Syst Rev2019;2019(8):MR000047. doi: https://doi.org/10.1002/14651858.mr000047.pub2


















