In unserer neuen Episode des EvidenzUpdate-Podcasts sprechen wir mit
über die neue S3-Leitlinie „Nicht-spezifischer Nackenschmerz“, die Thomas Kötter als Leitlinienkoordinator betreut hat. Das Gespräch ist auch „eine Reise durch zwei Jahrzehnte“ Nackenschmerz, Versorgungsforschung, hausärztliche Praxis und medizinische Selbstreflexion.Das EvidenzUpdate hat ein neues Zuhause auf www.evidenzupdate.de, dort gibt es alle Episoden, Zusatzmaterial und den kostenlosen Newsletter.
Plus für alle zu dieser Episode: eine ausführliche Zusammenfassung unseres Gesprächs, 5 Dos und 5 Don’ts, Wichtige Empfehlungen in a nutshell – sowie die Literatur.
Plus für alle Unterstützer zu dieser Episode: Wie immer das vollständige Transkript.Schreiben Sie uns: podcast@evidenzupdate.de
Ein Upgrade mit Haltung: Von S1 zu S3
„Es ist ein Update und ein Upgrade, das schreiben wir auch so“, sagt Thomas Kötter. Aus der einstigen S3-Leitlinie wurde später eine S1-Handlungsempfehlung und nun wieder eine multidisziplinäre S3-Leitlinie – mit einer Förderung aus Mitteln des Innovationsausschusses beim Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) unter dem Förderkennzeichen 01VSF22005. Der Grund: „Wenn wir das hausärztlich nicht weiter besetzen, tun es andere.“ Die DEGAM hat, wenn man so will, ein Versorgungsfeld verteidigt, das ein originär allgemeinmedizinisches ist.
Kontinuität in der Versorgung + 20 Jahre Nackenschmerz
Martin Scherer blickt zurück auf seinen eigenen Einstieg ins Thema, als er vor 20 Jahren mit der Arbeit an der ersten Version der S3-Leitlinie begann: „Der obere Rücken war noch frei – also hieß es: Du machst Nackenschmerz.“ Was hat sich seither getan? Überraschend wenig – und das ist vielleicht gar nicht mal schlecht:
„Die aktivierende Beratung steht wie ein Fels in der Evidenzbrandung.“
– Thomas Kötter
Und er ergänzt: „Man hat für vieles heute neue Begriffe, Patientenedukation etwa, aber im Kern machen wir seit 20 Jahren das Gleiche.“ Der Fortschritt liegt also in der Bestätigung durch neue Evidenz und in einer weiter differenzierten Darstellung von Diagnostik und Therapie.
Wie so oft: Weniger ist mehr
Eines der drei Ziele, die die Leitlinie unterstützen soll, ist die Vermeidung unnötiger Diagnostik. Die Regel lautet: Red Flags ausschließen – und dann keine Bildgebung.
„Die körperliche Untersuchung ist mehr als Symbolik.“
– Thomas Kötter
Nur sind es bekanntlich oftmals die Patientenerwartungen, die im ärztlichen Alltag dann doch zu bildgebenden Verfahren führen. Mittel der Wahl? Kommunikation:
„Manche fassen den Nacken an und schauen dabei aus dem Fenster.“
– Martin Scherer
Diagnostik dient nicht der Beruhigung, sondern der Risikoabschätzung. „Ich kann mit ausreichender Sicherheit sagen, dass nichts Gefährliches dahintersteckt“ – das kann ein Schlüsselsatz für das Arzt-Patienten-Gespräch sein.
Psychosoziale Dimension: Mehr als nur steifer Nacken
Nackenschmerz ist oft Ausdruck komplexer psychosozialer Zusammenhänge. Nach Erscheinen der ersten S3-Fassung hatte die damalige Redaktion der MMW einen CME-Beitrag dazu provokant überschrieben mit: „Meistens liegt es am Stress – machen Sie das Ihren Patienten klar.“ Scherer nennt das „journalistisch überspitzt“, aber völlig falsch ist es auch nicht. Die neue Leitlinie betont von Anfang an die Erhebung psychosozialer und arbeitsplatzbezogener Faktoren, nicht als Beiwerk, sondern als diagnostisch und therapeutisch relevant.
Aktivieren, aufklären, Vertrauen schaffen
Die Leitlinienautoren plädieren für ein konsequentes Set aus körperlicher Aktivierung, Edukation und Vermeidung unnötiger Maßnahmen. Wärmeanwendung wird empfohlen, Kälte kann hilfreich sein. Fast alles andere wird kritisch bewertet oder explizit abgelehnt: NSAR (nur kurzfristig), Paracetamol, Muskelrelaxanzien, Opioide, Injektionen, Kinesiotape.
„Man hat ein therapeutisches Köcherchen – und das reicht auch.“
– Thomas Kötter„Wir müssen aufhören, die Erwartung zu schüren, dass es für alles eine schnelle Lösung gibt.“
– Martin Scherer
Gegen Überversorgung und Geschäftemacherei
Kritisch wird es im Gespräch bei sogenannten „Nackenkliniken“. Das sind wahl- und privatärztliche Praxen, die sich auf Nackenschmerzen „spezialisiert“ haben und mit „individueller Diagnostik“ und „multimodalen Konzepten“ werben, die einen Reigen von Leistungen beinhalten, darunter auch Injektionen, Laser oder Taping. Befund:
„Das ist Quacksalberei.“ – Kötter
„Unredlich und unethisch.“ – Scherer
Die S3-Leitlinie positioniert sich sp: Evidenz statt Esoterik, Patientensicherheit statt Profitstreben. Aber nicht minder wichtig ist, das zeigen die Beispiele, Implementierung: CME-Artikel, Praxistests, interprofessionelle Kooperation – alles ist Teil des Rollouts.
Fazit: Klug nicht handeln ist auch Therapie
Kötter und Scherer geht es um ein Plädoyer für Zurückhaltung, Aufklärung und therapeutische Besonnenheit. Nicht jeder Schmerz braucht ein Rezept. Nicht jeder Wunsch eine Maßnahme. Aber jeder Mensch braucht das Gefühl, ernst genommen zu werden.
„Wir finden mit hoher Wahrscheinlichkeit keine Ursache – und das ist völlig in Ordnung.“
– Thomas Kötter
5 Dos and 5 Don’ts
Die 5 Dos
Anamnese und körperliche Untersuchung
Empfehlung für körperliche Aktivität
Selbstanwendung von Wärme
Edukation
kurzfristig NSAR, nicht parenteral
Die 5 Don’ts
Bildgebung bei fehlendem Hinweis auf strukturelle Ursache
Immobilisierung
Muskelrelaxanzien
Opioide
Massagen bei akuten nicht-spezifischen Nackenschmerzen
In a nutshell: Wichtige Empfehlungen
Diagnostik
Keine Bildgebung ohne Hinweise auf strukturelle Hinweise. (A ⇓⇓)
Keine Routine-Labordiagnostik bei akuten Beschwerden ohne Hinweise auf systemische Ursachen. (EK ⇓⇓)
Unbedingt Red Flags ausschließen – strukturelle Ursachen, Frakturen, Tumore etc. (EK ⇑⇑)
Bei Red Flags je nach Verdacht und Dringlichkeit weitere Bildgebung oder Labor und/oder Überweisung. (EK ⇑⇑)
Berücksichtigung psychosozialer Faktoren und jener am Arbeitsplatz bereits zu Beginn und im Behandlungsverlauf. (EK ⇑⇑)
Selbstmanagement
Körperliche Aktivität soll empfohlen werden – der wichtigste Therapiepfeiler. (A ⇑⇑)
Ruhigstellung vermeiden, da risiko- und chronifizierungsfördernd. (EK ⇓)
Wärme ja, Kälte kann – je nach subjektivem Empfinden. (B ⇑ / EK ⇔)
Medikamente
Paracetamol nicht empfohlen. (B ⇓)
Opioide und Cannabis: klare Negativempfehlungen – Nutzen-Risiko-Verhältnis negativ. (A ⇓⇓ / EK ⇓⇓)
NSAR nur kurzzeitig und bei akuten Schmerzen, nicht bei chronischen, und schon gar nicht parenteral. (0 ⇔ / EK ⇓ / EK ⇓⇓)
Muskelrelaxanzien nicht bei akuten und schon gar nicht bei chronischen nicht-spezifischen Nackenschmerzen. (B ⇓ / A ⇓⇓)
Nicht-medikamentöse Maßnahmen
Bewegungstherapie soll bei chronischen Schmerzen verordnet und kann bei akuten Schmerzen angeboten werden. (A ⇑⇑ / EK ⇔)
Patient:innenedukation empfohlen – Stärkung von Verständnis und Selbstwirksamkeit. (B ⇑)
Verhaltenstherapie kann empfohlen werden im multimodalen Kontext. (0 ⇔)
DiGA können empfohlen werden. (0 ⇔)
Akupunktur kann bei chronischen Schmerzen erwogen, sollte bei akuten Beschwerden aber nicht empfohlen werden. (0 ⇔ / A ⇓)
Fango, Bäder, Elektro- oder Lasertherapie, Kinesiotaping: nicht empfohlen. (B ⇓ bzw. EK ⇓)
Literatur
Lippe E von der, Krause L, Porst M, et al. Prävalenz von Rücken- und Nackenschmerzen in Deutschland. Ergebnisse der Krankheitslast-Studie BURDEN 2020. J Health Monitoring2021;6(S3):1–14. doi: https://doi.org/10.25646/7854
El-Allawy A, Muche-Borowski C, Wilfling D, et al. DEGAM-S3-Leitlinie Nicht-spezifischer Nackenschmerz. AWMF-Register-Nr. 053-007. DEGAM-Leitlinie Nr. 13. Versionsnummer 3.0. 2025. https://www.degam.de/leitlinie-s3-053-007
Scherer M, Chenot J-F, Kochen MM. Meist liegt’s am Stress–machen Sie das Ihren Patienten klar! MMW - Fortschritte Med 2006;148(20):43–5. doi: https://doi.org/10.1007/bf03364654
Bundesärztekammer (BÄK), Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV), Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF). Nationale VersorgungsLeitlinie Nicht-spezifischer Kreuzschmerz – Langfassung, 2. Auflage. Version 1. 2017. https://register.awmf.org/assets/guidelines/nvl-007l_S3_Kreuzschmerz_2017-03-abgelaufen.pdf
Chou R, Fu R, Carrino JA, et al. Imaging strategies for low-back pain: systematic review and meta-analysis. Lancet 2009;373(9662):463–72. doi: https://doi.org/10.1016/s0140-6736(09)60172-0
Jarvik JG, Gold LS, Comstock BA, et al. Association of Early Imaging for Back Pain With Clinical Outcomes in Older Adults. JAMA 2015;313(11):1143–53. doi: https://doi.org/10.1001/jama.2015.1871
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