EvidenzUpdate
EvidenzUpdate-Podcast
Patientensteuerung – sinnvoll fürs Praxisteam, oder kann das weg?
0:00
-1:01:03

Patientensteuerung – sinnvoll fürs Praxisteam, oder kann das weg?

Live vom 13. Tag der Allgemeinmedizin in Hamburg

Wir waren in Hamburg und haben wieder eine Podcast-Episode live mit Publikum aufgezeichnet. Dieses Mal waren wir beim 13. Tag der Allgemeinmedizin, der fand am Samstag, den 8. November am UKE statt. Wir haben gefragt: Ist Patientensteuerung, von der in der Politik derzeit viel gesprochen wird, überhaupt sinnvoll? Und falls ja: Welche brauchen wir? Was sagt uns die Evidenz? Und was bedeutet das für den klinischen Alltag?

Spoiler: Patientensteuerung – oder sprechen wir besser von Koordination – einfach mal so, wird wenig heilen, wenn nicht gleichzeitig andere Probleme und Fehlanreize beseitigt werden.

Plus für alle hier: die Zusammenfassung unseres Gesprächs, unten auf besonderen Wunsch ein paar Ergebnisse aus den HZV-Evaluationen und natürlich die Literatur.
Das Plus für alle Unterstützer zu dieser Episode:

Schreibt uns: podcast@evidenzupdate.de


Einsteigen, bitte!

Noch bevor wir uns mit harter (oder weniger harter) Evidenz beschäftigt haben, tauchte Josef Hecken auf, der unparteiische Vorsitzende des Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA), in Erinnerung an seinen legendären „Mittelfinger“-Moment. Ein „Fingerzeig“, um die Frage aufzuwerfen: Was bringt Patientensteuerung eigentlich wirklich? Geld sparen, wie manche glauben? Oder Ordnung ins System bringen, wie andere hoffen?

So wie Josef Hecken im Gesundheitsministerium nachfragte, wie man mit einem Primärarztsystem in den kommenden Jahren zwei Milliarden Euro einsparen könne („Seid Ihr besoffen, wo kommt denn diese Zahl her?“), sind wir uns einig: Wenn Steuerung nur der Sparlogik folgt, wird’s ein teurer Irrtum.

Evidenz mit Taschenlampe 🔦

In der Literatur zur Patientensteuerung haben wir eine kleine Auswahl systematischer Reviews und Meta-Analysen gefunden, von Patientennavigation über Community-Based Healthcare bis zu Gatekeeping-Systemen.

Die Quintessenz: Es gibt viele Hinweise, aber wenig harte Beweise. Die Effekte sind mal „low“, mal „ambivalent“. Aber: „Evidenz ist kein Flutlicht, sondern eine Taschenlampe.“

Zwischen Leitlinien und Leitplanken

Die Diskussion im Publikum zeigt, wie sehr Praxis und Politik ineinandergreifen.

  • Bürokratieabbau? Alle wünschen ihn, aber niemand hat ihn je erlebt.

  • Zeit für Gespräche? Nur, wenn irgendwo anders entlastet wird.

  • Digitale Tools? Nur dann hilfreich, wenn sie nicht wieder neue Faxe erzeugen.

  • Digitale Ersteinschätzung? Kann man wiederum mittels KI austricksen.

Iris Schluckebier, MFA und Expertin für Praxis- und Qualitätsmanagement, bringt es auf den Punkt: „Wir brauchen keine drei ostdeutschen Frauen, die sich betrinken und das Gesundheitssystem neu erfinden – wir brauchen Praxisteams, denen man zuhört.“

Zwischen KI, Krawatten und Kisten Rotwein

Und was passiert zum Beispiel, wenn KI-Tools oder auch etablierte Verfahren wie SmED bald regelmäßig der erste Patientenkontakt sind? Hilft das, oder schafft es neue Barrieren – vor allem für die, die ohnehin schon abgehängt sind?

Einige Ärzt:innen und MFAs im Saal warnen, andere sehen Chancen. In jedem Fall aber: Digitale Systeme können unterstützen, aber nicht das Denken ersetzen.

Ordnung im Chaos

Am Ende steht keine Lösung, sondern ein ehrliches Fazit: Patientensteuerung ist kein Sparmodell. Sie kann funktionieren – aber nur, wenn sie als Kooperationsmodell gedacht wird, nicht als Kontrollinstrument.

Die Hausarztzentrierte Versorgung (HZV) zeigt das: Wo sie klug mit der spezialistischen Medizin vernetzt ist, wie in Baden-Württenberg, entstehen weniger Hospitalisierungen, sogar weniger Amputationen bei Diabetiker:innen.

Und noch etwas nehmen wir vom TdA aus Hamburg mit: Wissenschaft und Praxis – das ist kein Gegensatz. Heute haben wir beides in einem Raum gehabt.

Ein paar Ergebnisse der HZV-Evaluationen

  • Krankenhauseinweisungen: In der HZV-Gruppe wurden jährlich etwa 1 bis 1,3 vermeidbare Hospitalisierungen pro 100 Patienten im Vergleich zur Regelversorgung vermieden.

  • Hospitalisierungsrate: Die Rate sank zwischen 2011-2014 und blieb im Schnitt 10–15 % niedriger als in der Vergleichsgruppe (z.B. adjustierte Differenz: -3,9 % für das Jahr 2014, p<0,0001).

  • Wiedereinweisungen: Die HZV reduzierte die Wiedereinweisungsrate im 4-Wochen-Zeitraum nach Entlassung um etwa 5–11 % (z.B. adjustierte Differenz: -2,2 % im Jahr 2014, p<0,0001).

  • Schwerwiegende Komplikationen bei Diabetes: Über sieben Jahre zeigte sich in der HZV eine signifikant geringere Häufigkeit von Komplikationen wie Amputationen, Dialysen, Erblindungen, Herzinfarkten und Schlaganfällen – etwa 4.850 vermeidbare Ereignisse bei 119.000 HZV-Versicherten im analysierten Zeitraum.

  • Versorgung älterer Patienten: Die HZV führte zu weniger Verordnungen potenziell inadäquater Medikamente (PIM) bei über 65-Jährigen (adjustierte Differenz: -1,76 %, p<0,0001), sowie einer signifikant niedrigeren Rate von Krankenhausaufenthalten wegen hüftgelenksnaher Frakturen (adjustierte Differenz: -0,1 %, p<0,0001).

  • Arzneimitteltherapie: Pharmakotherapiekosten pro Versichertem wurden im Schnitt 3–5 % niedriger bei HZV-Teilnehmern ermittelt.

  • Koordination und Kontinuität: HZV-Patienten haben seltener unkoordinierte Facharztkontakte (rund 20–30 % weniger pro Jahr), und eine deutlich höhere Versorgungskontinuität (z.B. 96 % der Kontakte erfolgen beim Hausarzt statt 84 % in der Vergleichsgruppe).

  • Lebensjahre und ökonomische Kennzahlen: Erste Hinweise deuten auf Vorteile bezüglich gewonnener Lebensjahre und kosteneffizienterer Versorgung für HZV-Teilnehmer.

Literatur

  1. Ali-Faisal SF, Colella TJF, Medina-Jaudes N, et al. The effectiveness of patient navigation to improve healthcare utilization outcomes: A meta-analysis of randomized controlled trials. Patient Educ Couns2017;100(3):436–48. doi: https://doi.org/10.1016/j.pec.2016.10.014

  2. Teggart K, Neil-Sztramko SE, Nadarajah A, et al. Effectiveness of system navigation programs linking primary care with community-based health and social services: a systematic review. BMC Heal Serv Res 2023;23(1):450. doi: https://doi.org/10.1186/s12913-023-09424-5

  3. Albertson EM, Chuang E, O’Masta B, et al. Systematic Review of Care Coordination Interventions Linking Health and Social Services for High-Utilizing Patient Populations. Popul Heal Manag2022;25(1):73–85. doi: https://doi.org/10.1089/pop.2021.0057

  4. Garrido MV, Zentner A, Busse R. The effects of gatekeeping: A systematic review of the literature. Scand J Prim Heal Care 2011;29(1):28–38. doi: https://doi.org/10.3109/02813432.2010.537015

  5. Sripa P, Hayhoe B, Garg P, et al. Impact of GP gatekeeping on quality of care, and health outcomes, use, and expenditure: a systematic review. Br J Gen Pr 2019;69(682):e294–303. doi: https://doi.org/10.3399/bjgp19x702209

  6. Klaehn A-K, Jaschke J, Freigang F, et al. Cost-effectiveness of case management: a systematic review. Am J Manag Care 2022;28(7):e271–9. doi: https://doi.org/10.37765/ajmc.2022.89186

  7. Pang RK, Shannon B, Collyer T, et al. Community care navigation intervention for people who are at risk of unplanned hospital presentations. Cochrane Database Syst Rev 2025;2025(6):CD014713. doi: https://doi.org/10.1002/14651858.cd014713.pub2

  8. Kehlmann D. Die Vermessung der Welt. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Verlag 2005. https://www.rowohlt.de/buch/daniel-kehlmann-die-vermessung-der-welt-9783498035280 (accessed 17 Nov 2025).

  9. Abschlussbericht zur Evaluation der Hausarztzentrierten Versorgung (HzV) nach § 73b SGB V in Baden-Württemberg (2010-2011). 2013. https://neueversorgung.de/images/PDF/Evaluation_2016/HzV-Ergebnisbericht2012_GESAMT_FINAL_Stand_07-02-2013-1.pdf

  10. Evaluation der Hausarztzentrierten Versorgung (HZV) in Baden-Württemberg: Zusammenfassung der Ergebnisse zur Evaluationsphase 2013–2014. 2014. http://www.aok-bw-presse.de/aktuelles-95.php?initToken=1&mode=detail&id=1563&from=index

  11. Evaluation der Hausarztzentrierten Versorgung (HZV) in Baden-Württemberg: Zusammenfassung der Ergebnisse – Ausgabe 2016. 2016. https://neueversorgung.de/images/PDF/Evaluation_2016/HZV_Evaluation_Broschuere.pdf

  12. Evaluation der Hausarztzentrierten Versorgung (HZV) in Baden-Württemberg: Zusammenfassung der Ergebnisse – Ausgabe 2018. 2018. https://neueversorgung.de/images/Pressemitteilungen/Evaluation_2018/180919-HZV_Evaluation_Broschuere_WEB_final.pdf

  13. Evaluation des AOK-Hausarztvertrages in Baden-Württemberg, Berichtsjahre 2011-2017: Einordnung, Hintergrund zur Methodik und Ergebnisübersicht. 2019. https://neueversorgung.de/images/PDF/Evaluation_2016/2019-12-18_Zusammenfassung_HZV_Evaluation_2011-2017.pdf

  14. Evaluation der Hausarztzentrierten Versorgung (HZV) in Baden-Württemberg: Zusammenfassung der Ergebnisse – Ausgabe 2020. 2020. https://neueversorgung.de/images/PDF/201210-HZV-Evaluation_Broschuere_HZV-Evaluation_2020.pdf

  15. Evaluation der Hausarztzentrierten Versorgung (HZV) nach § 73b SGB V in Baden‐Württemberg (2011 bis 2020), Studienphase 2021 bis 2022, Teil 1. 2023. https://neueversorgung.de/images/2023/08_23/Ergebnisbericht_21-22_Universitt_Heidelberg_Teil_1.pdf

  16. Evaluation der Hausarztzentrierten Versorgung (HZV) nach § 73b SGB V in Baden‐Württemberg (2011 bis 2020), Studienphase 2021 bis 2022, Teil 2. 2023. https://neueversorgung.de/images/2023/08_23/Ergebnisbericht_21-22_Universitt_Frankfurt_am_Main_Teil_2A.pdf

  17. Evaluation der Hausarztzentrierten Versorgung (HZV) nach § 73b SGB V in Baden‐Württemberg (2011 bis 2020), Studienphase 2021 bis 2022, Teil 2B. 2023. https://neueversorgung.de/images/2023/08_23/Ergebnisbericht_21-22_Universitt_Frankfurt_am_Main_Teil_2B_.pdf

Diskussion über diese Episode

Avatar von User

Sind Sie bereit für mehr?