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Kurswechsel in der Prostata: Finger weg von der DRU – und Fragen beim PSA
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Kurswechsel in der Prostata: Finger weg von der DRU – und Fragen beim PSA

Über die neue Früherkennung mit Leitlinienautor Thomas Kötter

Bei der Früherkennung auf ein Prostata-Karzinom wird jetzt einiges anders: Die EBM-GOP 01731 sollten Sie vergessen. Denn in der neuen Version (8.0) der S3-Leitlinie Prostatakarzinom hat das “Abtasten der Prostata vom After aus”, wie es in § 25 der Krebsfrüherkennungs-Richtlinie (KFE-RL) heißt, also die digital-rektale Untersuchung (DRU), keinen Stellenwert mehr zur Früherkennung eines Prostata-Ca. Dafür bekommt die Bestimmung des Prostata-spezifischen Antigens (PSA) einen neuen Stellenwert in der Leitlinie – samt neuer Schwellenwerte und Folgeintervalle. Neu ist außerdem die Rolle der MRT, bevor überhaupt eine Biopsie in Erwägung gezogen werden soll.

Allerdings: Ein Screening empfiehlt die Leitlinie unverändert nicht, Männer ab 45 sollen nicht gezielt angesprochen werden, sondern nach einem Wunsch zur Früherkennung (oder Familienanamnese) vor einer PSA-Wert-Bestimmung zunächst über Vor- und Nachteile aufgeklärt werden. Zudem könnte sich in einer nächsten Version die Altersgrenze weiter nach oben verschieben (etwa auf 50 statt 45 Jahre). Und Leitlinie hin oder her: Die neuen Empfehlungen sind längst nicht Teil der KFE-RL, der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) hat erst am 17. Juli ein entsprechendes Beratungsverfahren gestartet, das einige Monate brauchen wird, Ausgang ungewiss.

In dieser Episode sprechen wir mit

, der für die DEGAM an dem Früherkennungskapitel der Leitlinie mitgearbeitet hat. Wir gehen einigen (offenen) Evidenzfragen nach, destillieren (hoffentlich praktische) Antworten für den klinischen Alltag, und wir wagen einige Ausblicke.

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findet die Arbeit im Leitlinienprogramm Onkologie klasse: „Das ist beeindruckend. Was da an Struktur, an Ressourcen und an Tempo reingeht, das sucht in Deutschland seinesgleichen.“ Und doch, so Scherer mit seiner „Allgemeinmedizin-Mütze“ auf dem Kopf: „Zwischen Tumorboard und Hausarztpraxis liegen manchmal Welten.“

beantwortet, warum Version 8 so schnell nach Version 7 kam (nur ein Jahr lag dazwischen): Die Leitlinie wurde nicht vollständig überarbeitet, sondern gezielt einige Kapitel – in unserem Fall die Früherkennung, Diagnostik und Stadieneinteilung. Die Arbeitsgruppe hat strukturiert und effizient gearbeitet, mit Untergruppen und professioneller Zuarbeit der UroEvidence-Einheit der Deutschen Gesellschaft für Urologie (DGU).

🧪 DRU – der gestürzte Mythos

Ein zentrales Statement kommt von Kötter zur digital-rektalen Untersuchung (DRU):

„Die diagnostische Aussagekraft ist vergleichbar mit einem Münzwurf.“

Die Leitlinie versieht die DRU nun mit einer starken Negativempfehlung in der Früherkennung. Scherer ergänzt zugespitzt:

„Wenn man fast 80 Millionen für eine Früherkennungsleistung ausgibt, die auf einer DRU basiert, dann klingt das eher nach teurer Beruhigungsmaßnahme als nach effektiver Prävention.“

Und er warnt vor einem Fortbestand dieses Rituals: „Der Löffel ist hilfreich beim Umrühren – aber kochen tut er auch nicht.“

🩸 PSA-Test: Nur mit Aufklärung und Wunsch

Der PSA-Test ist nach Version 8 der Leitlinie der entscheidende Start und Teil der individuellen Früherkennung – aber unter klaren Bedingungen:

  • Nur bei Männern ab 45 Jahren,

  • mit einer Lebenserwartung von über 10 Jahren,

  • nach ergebnisoffener Beratung,

  • auf ausdrücklichen Wunsch des Patienten.

Scherer betont:

„PSA-Wert mal eben machen ist kein Spaß, sondern Arbeit. Da gehört Anamnese mit dazu, reden, erklären, aufklären.“

Er rechnet vor: Bei einem 45-jährigen Mann mit einem PSA-Wert von 2,5 liegt der positiv-prädiktive Wert (PPV) bei gerade einmal 12–15 %, „acht bis neun von zehn haben gar keinen relevanten Tumor.“

🔁 Neuer Pfad: Risikostratifizierung statt Stanzbiopsie

Kötter beschreibt den neuen Algorithmus:

  • PSA <1,5: Kontrolle nach 5 Jahren

  • PSA 1,5–2,99: Kontrolle nach 2 Jahren

  • PSA ≥3: Kontrolle innerhalb von 3 Monaten und bei Bestätigung:

    • urologische Konsultation und

    • Risikobewertung bspw. mit dem RPCRC-Risikokalkulator anhand Alter, Anamnese, mutmaßlicher Lebenserwartung, familiärer Belastung, Ultraschall-gestützter Bestimmung der PSA-Dichte und hier dann erstmals der DRU

    • anschließend MRT der Prostata und anschließend gezielte Biopsie nur

      • bei PI-RADS ≥4 oder

      • erhöhtem individuellen Risiko.

Aber, sagt Thomas Kötter:

„Die eigentliche Revolution ist, dass nach einem positiven PSA erst mal gar nichts Invasives passiert.“

Kein PSA-Test mehr ohne Kontext – und vor allem keine voreilige Biopsie. Stattdessen: erneute Kontrolle des Wertes unter Berücksichtigung von Störfaktoren (z. B. Fahrradfahren, Sexualverkehr). Erst bei persistierendem PSA >3 und Risikokonstellation folgt ein MRT – und erst danach, bei auffälligem PI-RADS-Befund oder erhöhtem individuellen Risiko, eine MRT-gerichtete Biopsie.

„Keine Biopsie mehr vor MRT – das ist die große strukturelle Änderung.“ (Kötter)

🧠 Shared Decision Making als Schlüssel

Beide, Scherer und Kötter, legen großen Wert auf Beratung. Scherer bringt es auf den Punkt:

„Der PSA-Test kann helfen, ein Karzinom früh zu entdecken – aber auch anschlagen, obwohl kein gefährlicher Tumor da ist. Was man dann findet, hätte vielleicht nie Beschwerden gemacht.“

Beide empfehlen vorbereitete Formulierungen für die Beratung, z. B.:

„Wenn Sie zum Screening gehen, erhöht sich Ihre Wahrscheinlichkeit, ein Prostatakarzinom diagnostiziert zu bekommen.“

🏗️ Infrastruktur & politische Implikationen

Kritik gibt es an der Verzögerung zwischen Leitlinienempfehlung und G-BA-Richtlinie. Kötter fordert, das „Deutschlandtempo“ schon während der Leitlinienentwicklung durch vorbereitende Prozesse zu nutzen. Scherer beklagt die kognitive Dissonanz zwischen aktueller Evidenz und träger Versorgungspolitik.

Ein Blick nach Schweden zeigt: Dort funktioniert ein strukturiertes, qualitätsgesichertes Screening mit PSA und MRT. Eine Option für Deutschland? Kötter mahnt: „Nur weil es in Schweden geht, heißt das nicht, dass es in Deutschland funktioniert – uns fehlt die zentrale Steuerung.“

🧓 Einzelfall-Logik statt Obergrenzen beim Alter

Was tun mit rüstigen 75- oder 90-Jährigen, die regelmäßig zum PSA-Test gehen? Kötter erzählt von einem 95-jährigen Patienten, der sich tief verletzt fühlte, als er von der Untersuchung abraten wollte. Scherer nennt den PSA-Test in solchen Fällen ein

„Surrogat für Fürsorge, Bonding, wichtig genommen werden.“

Das zeige, wie sehr Früherkennung auch Beziehungspflege sei – und warum der Umgang damit differenziert bleiben muss.

✅ Für den ärztlichen Alltag

  1. Früherkennung? Ja, aber individualisiert.

    • Nur auf Patientenwunsch und nach Beratung.

    • Kein Screening!

  2. DRU ist passé.

    • Kein Bestandteil der Früherkennung mehr.

  3. PSA ≥ 3 ng/ml → MRT vor Biopsie.

    • Erst nach Bestätigung binnen 3 Monaten.

    • Bildgebung gewinnt an Stellenwert.

  4. Risikostratifizierung zählt.

    • Alter, familiäre Belastung, genetische Faktoren et al. beachten.

    • Extern validierte (europäische) Risikokalkulatoren nutzen: RPCRC.

  5. PI-RADS 1–2 = keine Biopsie.
    PI-RADS 3 und niedriges ind. Risiko = keine Biopsie.

    • Vermeidung unnötiger Invasivität.

  6. Gespräch über Vor- und Nachteile ist Pflicht.

    • Shared Decision Making ist Voraussetzung.

  7. Genetisches Risiko (BRCA2, MSH2 oder MSH6):

    1. Ab 40 J. Angebot einer Risikosprechstunde.

  8. Beratungssätze für die Praxis (Beispiel):

„Ein PSA-Test kann helfen, einen Tumor früh zu entdecken – aber auch etwas anzeigen, das harmlos ist. Manchmal behandeln wir etwas, das nie Beschwerden gemacht hätte. Deshalb ist die Entscheidung für den Test nicht einfach, sondern eine persönliche.“

🔮 Ausblick: Verschiebt sich die Altersgrenze?

Ein Thema, das im Gespräch mehrfach anklingt, ist die Frage nach der unteren Altersgrenze. Thomas Kötter verweist darauf, dass die aktuelle Altersgrenze teils auch aus Gründen der Umsetzbarkeit und Akzeptanz in der Praxis beibehalten wurde. Wörtlich sagt er:

„Ich denke, dass das mit der nächsten Version vielleicht sogar schon dann auf 50 korrigiert wird.“
„Wenn sich jetzt auch noch das Einstiegsalter geändert hätte, dann hätte das bei vielen in der Versorgung wahrscheinlich erst mal zu Nasenrümpfen geführt.“

Tatsächlich stützen mehrere Studien die Überlegung, die Früherkennung später beginnen zu lassen. Die schwedischen Daten aus GÖTEBORG-1 und -2 sowie die deutsche PROBASE-Studie zeigen:

  • Bei Männern unter 50 Jahren finden sich fast ausschließlich klinisch nicht relevante Tumoren.

  • Tumoren, die bei 45- bis 50-Jährigen über Screening entdeckt wurden, wären auch später entdeckt worden, eine frühere Detektion war meist ohne prognostischen Nachteil.

Auch aus der Rotterdam-Kohorte der ERSPC und anderen europäischen Zentren gibt es Hinweise, dass ein Einstieg mit 50 Jahren – und dann risikoadaptiert – womöglich die bessere Strategie wäre.

👉 Fazit

Die Altersgrenze 45 steht zur Disposition. Neue Evidenz könnte dazu führen, dass künftig ein späterer Einstieg empfohlen wird – womöglich kombiniert mit einer stärkeren Gewichtung familiärer und genetischer Risiken. Wie Kötter formuliert:

„Definitiv: Das wird ein Thema in der nächsten Version.“

Literatur

  1. Ronckers C, Spix C, Trübenbach C, et al. Krebs in Deutschland für 2019/2020. 2023. https://edoc.rki.de/handle/176904/11438

  2. Leitlinienprogramm Onkologie (Deutsche Krebsgesellschaft, Deutsche Krebshilfe, AWMF). S3-Leitlinie Prostatakarzinom Langversion 8.0, 2025, AWMF-Registernummer: 043-022OL. https://www.leitlinienprogramm-onkologie.de/leitlinien/prostatakarzinom/

  3. Stiftung Deutsche Krebshilfe. Geschäftsbericht 2023. https://www.krebshilfe.de/fileadmin/Downloads/PDFs/Geschaeftsbericht/Deutsche_Krebshilfe_-_Geschaeftsbericht-2023.pdf

  4. Krilaviciute A, Kaaks R, Seibold P, et al. Risk-adjusted Screening for Prostate Cancer—Defining the Low-risk Group by Data from the PROBASE Trial. Eur Urol Published Online First: 2024. doi: https://doi.org/10.1016/j.eururo.2024.04.030

  5. Mangiapane S, Kretschmann J, Czihal T, et al. Zi-Trendreport zur vertragsärztlichen Versorgung – Bundesweiter tabellarischer Report vom 1. Quartal 2021 bis zum 4. Quartal 2024. Published Online First: 4 July 2025. https://www.zi.de/fileadmin/Downloads/Service/Publikationen/Zi-TrendReport_2024-Q4.pdf

  6. Gemeinsamer Bundesausschuss (G-BA). Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses über die Früherkennung von Krebserkrankungen (Krebsfrüherkennungs-Richtlinie/KFE-RL). https://www.g-ba.de/richtlinien/17/

  7. Krilaviciute A, Becker N, Lakes J, et al. Digital Rectal Examination Is Not a Useful Screening Test for Prostate Cancer. Eur Urol Oncol 2023;6(6):566–73. doi: https://doi.org/10.1016/j.euo.2023.09.008

  8. Beyer K, Leenen R, Venderbos LDF, et al. Health Policy for Prostate Cancer Early Detection in the European Union and the Impact of Opportunistic Screening: PRAISE-U Consortium. J Pers Med2024;14(1):84. doi: https://doi.org/10.3390/jpm14010084

  9. Empfehlung des Rates vom 9. Dezember 2022 zur Stärkung der Prävention durch Früherkennung: Ein neuer EU-Ansatz für das Krebsscreening, der die Empfehlung 2003/878/EG des Rates ersetzt 2022/C 473/01. 2022. https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/?uri=celex%3A32022H1213%2801%29 (accessed 16 July 2025).

  10. Vynckier P, Annemans L, Raes S, et al. Systematic Review on the Cost Effectiveness of Prostate Cancer Screening in Europe. Eur Urol 2024;86(5):400–8. doi: https://doi.org/10.1016/j.eururo.2024.04.036

  11. Godtman RA, Holmberg E, Lilja H, et al. Opportunistic Testing Versus Organized Prostate-specific Antigen Screening: Outcome After 18 Years in the Göteborg Randomized Population-based Prostate Cancer Screening Trial. Eur Urol 2015;68(3):354–60. doi: https://doi.org/10.1016/j.eururo.2014.12.006

  12. Nößler D. Prostata-Screening: „DRU völlig sinnlos!“ – PSA-Cut-off könnte sich verschieben. Ärzte Zeitung. 2024. https://www.aerztezeitung.de/Medizin/Prostata-Screening-DRU-voellig-sinnlos-PSA-Cut-off-koennte-sich-verschieben-447448.html

  13. Hugosson J, Godtman RA, Wallstrom J, et al. Results after Four Years of Screening for Prostate Cancer with PSA and MRI. N Engl J Med 2024;391(12):1083–95. doi: https://doi.org/10.1056/nejmoa2406050

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  16. Bratt O, Godtman RA, Jiborn T, et al. Population-based Organised Prostate Cancer Testing: Results from the First Invitation of 50-year-old Men. Eur Urol 2024;85(3):207–14. doi: https://doi.org/10.1016/j.eururo.2023.11.013

  17. Hugosson J, Roobol MJ, Månsson M, et al. A 16-yr Follow-up of the European Randomized study of Screening for Prostate Cancer. Eur Urol 2019;76(1):43–51. doi: https://doi.org/10.1016/j.eururo.2019.02.009

  18. Carlsson SV, Godtman RA, Pihl C-G, et al. Young Age on Starting Prostate-specific Antigen Testing Is Associated with a Greater Reduction in Prostate Cancer Mortality: 24-Year Follow-up of the Göteborg Randomized Population-based Prostate Cancer Screening Trial. Eur Urol 2023;83(2):103–9. doi: https://doi.org/10.1016/j.eururo.2022.10.006

  19. Arsov C, Albers P, Herkommer K, et al. A randomized trial of risk‐adapted screening for prostate cancer in young men—Results of the first screening round of the PROBASE trial. Int J Cancer2022;150(11):1861–9. doi: https://doi.org/10.1002/ijc.33940

  20. Kötter T. Krebsfrüherkennung bei Männern nach der Krebsfrüherkennungsrichtlinie. Allg up2date2023;04(04):291–9. doi: https://doi.org/10.1055/a-1818-9493

  21. IQWiG. Prostatakrebsscreening mittels PSA-Test – Abschlussbericht S19-01. 2020.https://www.iqwig.de/download/s19-01_psa-screening_abschlussbericht_v1-1.pdf

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