Obacht, liebe Nerds, heute wird es richtig nerdig. Wir beschäftigen uns mit dem Elfenbeinturm, mit dem „Fischkopf“ des Gesundheitswesens: der Academia. Ja, das wird ein eher theoretisches Gespräch und nicht direkt einen Impact auf die every day practice haben. Aber wir meinen: Nachdenken müssen wir dennoch darüber. Es gibt auch gleich einen Spoiler samt Cliffhanger: Dieses Gespräch ist keine vollständige Epikrise, sondern nur eine erste Anamnese, ein erster Aufriss und der Auftakt für weitere Gedanken und Gespräche.
Plus für alle hier: die Zusammenfassung unseres Gesprächs, der besprochene Aufsatz „in a nutshell“ und natürlich die Literatur.
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Unser Thema heute ist ein im BMJ veröffentlichter Aufsatz von Sonia Saxena, Miguel O’Ryan und Fran Baum:
Darin attestieren die drei der akademischen Medizin eine tiefe Krise und fordern (natürlich) eine Revolution. Die drei sind Chairs der BMJ Commission on the Future of Academic Medicine, die hervorgegangen ist aus der International Campaign for Revitalising Academic Medicine (ICRAM), die 2003 von zahlreichen Partnern gegründet wurde.
Der Kern ihrer Kritik: Die Ausbildung ist zu teuer, die Forschung orientiert sich zu stark am Profit, ist gleichsam entkoppelt, es fehlt eine übergeordnete Agenda, die sich am Bedarf der Bevölkerung orientiert.
Nur ein Beispiel, an das wir angesichts der jüngsten Nobelpreis-Bekanntgaben erinnert wurden: Auch heuer ging der in Physik wieder an Forscher, die sich mit Quantenphysik beschäftigen. Das erinnert uns an Ferenc Krausz, einer der drei 2023er Laureaten. Krausz forscht in München an der sogenannten Attosekundenphysik. Und er will seine Erkenntnisse für die Medizin nutzbar machen. Einfach formuliert will er mit quantenmechanischen Methoden in nur einem Blutstropfen den kompletten Gesundheitszustand eines Menschen messbar machen.
Das ist „Star Trek pur“ und wir alle schauen begeistert hin. Aber: Niemand fragt, was uns das klinisch bringt, jedenfalls im Moment. Und das ist für uns ein Teil der Problembeschreibung: Forschung rast den Technologien hinterher, wird selbstreferentiell und verliert den Bezug zur Versorgung. Am Ende ist das System einfach dumm.
Hinzu kommen ausufernde Kosten bei gleichzeitig noch immer prekären akademischen Laufbahnen und glass ceilings. Und immer wieder das Humboldt’sche Prinzip aus Forschung, Lehre, Patientenversorgung, das heute eher nach Überforderung als nach Ideal klingt. Die akademische Medizin ist alles andere als das, was auch Virchow formuliert hat.
Die 5 Leitprinzipien (siehe unten) der BMJ-Gruppe übersetzen wir vereinfacht so: Wir brauchen einen Kompass – Patientenwohl, Planetary Health, Praxisrelevanz. Wenn das stimmt, sind wir auf dem richtigen Weg.
Doch bevor Euphorie aufkommt, erst einmal der Realitätscheck: Denn wie würden wohl Fakultätsvorstände reagieren, wenn man ihnen so ein Papier um die Ohren haut? Laut, empört und ungehalten. Niemand hört gern, dass er revolutioniert werden soll.
Das Paper ist zweifelsohne inspirierend. Aber zur Wahrheit gehört eben auch, dass es nach dem GOBSAT-Prinzip entstanden ist: Good Old Boys Sitting Around a Table. Ob eine repräsentative Bevölkerungsbefragung zu einem ähnlich kritischen Blick auf die universitäre Medizin käme, bezweifeln wir.
Trotzdem: Der Weckruf ist nötig. Die Autor:innen fordern keine Zerstörung, sondern eine radikale Neujustierung, eine Revolution im besten Sinne: raus aus der Überlastung, weg vom Kommerz, hin zur Relevanz. Immer wieder fragen: Was mache ich hier eigentlich für eine Forschung? Ist sie relevant für meine Patienten? Oder nur Brot-und-Butter, um den Laden am Laufen zu halten?
In a nutshell
Die Problembeschreibung und die Lösungsansätze von Saxena et al. in Kürze:
💰 Ökonomische Schieflage und soziale Exklusion
Explodierende Ausbildungskosten: In vielen Ländern kostet ein Medizinstudium 200.000–400.000 US-Dollar, wodurch der Zugang auf eine wohlhabende Minderheit beschränkt ist.
Privatisierung und Kommerzialisierung: Zunehmende Dominanz privater Hochschulen und internationaler Studiengebühren verschärft Bildungsungleichheiten.
Karrieredruck: Akademische Laufbahnen sind schlecht bezahlt, befristet und unsicher; viele Absolvent:innen fliehen in die lukrativere klinische Praxis.
⚙️ Kommerzialisierung der Forschung
Profit- statt Gemeinwohlorientierung: Forschung orientiert sich zunehmend an industriellen und technologischen Interessen, weniger an Bevölkerungs- und Planetengesundheit.
Unterfinanzierung öffentlicher Gesundheitsthemen: Nur etwa 9 % der weltweiten Gesundheitsforschungsgelder fließen in Public-Health-Themen.
Wettbewerb statt Kooperation: Universitäten und Forschungsinstitute konkurrieren um Drittmittel, statt gemeinsam wissenschaftliche Qualität zu sichern.
📉 Strukturelle Dysfunktion
Fragmentierung: Forschung, Lehre und Versorgung sind voneinander entkoppelt; akademische Medizin ist zu langsam, zu träge und zu schlecht integriert in die Versorgung.
„Publish or perish“-Kultur: Erfolg wird über Impact Factor, Drittmittel und Zitierhäufigkeit definiert – nicht über Relevanz oder Teamarbeit.
Gender- und Diversity-Gaps: Ungleiche Chancen, „glass ceilings“ und diskriminierende Leistungsmetriken verhindern Chancengleichheit.
🌍 Gesellschaftliche Entkopplung
Vertrauensverlust: Bevölkerung misstraut Forschung, wenn sie als irrelevant, elitär oder profitorientiert wahrgenommen wird.
Populismus & Desinformation: Social-Media-Dynamiken fördern Pseudowissenschaft und Celebrity-Kult in der akademischen Kommunikation.
Mangelnde Partizipation: Patient:innen und Öffentlichkeit werden selten in Forschung oder Prioritätensetzung einbezogen.
🔥 Polykrisen und Überforderung
Pandemien, Klimawandel, geopolitische Krisen zeigen die Fragilität selbst reicher Gesundheitssysteme.
Burnout und Abwanderung: Akademiker:innen arbeiten unter enormem Druck zwischen Lehre, Forschung und Versorgung. Viele verlassen das System.
Brain Drain: Talentabfluss aus Ländern mit niedrigen Einkommen verschärft globale Ungleichheiten.
🌱 Die 5 Leitprinzipien für Lösungsansätze
1. Fokus auf Gesundheit von Bevölkerung und Planet
Forschung und Lehre sollen sich an Gesundheits-Outcomes, nicht an Profit orientieren.
Einbindung sozialer und kommerzieller Determinanten von Gesundheit.
Aufbau einer globalen Agenda für Gesundheits- und Klimaschutz.
Ausbildung von Ärzt:innen für unterversorgte Regionen und Primärversorgung.
2. Angleichung mit den Zielen des Gesundheitssystems
Integration statt Konkurrenz: Universitäten, Kliniken und öffentliche Gesundheitsdienste sollen gemeinsame Ziele verfolgen.
Team Science statt Star-System: Zusammenarbeit und Interdisziplinarität sollen belohnt werden.
Faire Bezahlung und sichere Karrierewege für akademische Fachkräfte.
Qualitätsindikatoren sollen gesellschaftlichen Impact und Lehre statt Publikationszahlen betonen.
3. Ethik, Partizipation und Relevanz verankern
Co-Creation mit Patient:innen, Bürger:innen und Communities – von der Fragestellung bis zur Umsetzung.
Schutz vor gesundheitsschädlichen Industrien (Tabak, fossile Brennstoffe, Junkfood, Glücksspiel).
Abkehr von tokenistischer Beteiligung hin zu echter Bürgerbeteiligung.
Wissenschaftskommunikation soll partizipativ, anschaulich und dialogisch werden, um Desinformation zu begegnen.
4. Gerechte Gesundheits-Outcomes
Abbau von Ungleichheiten in Bildung, Forschung, Karriere und Versorgung.
Global Capacity Building: Investitionen in unterversorgte Regionen, um „Brain Drain“ zu verhindern.
Inklusive akademische Kultur mit Gleichstellung nach Geschlecht, Ethnie und Einkommen.
Öffentliche Finanzierung soll universellen Zugang zur medizinischen Ausbildung sichern.
5. Real-World-Impact schaffen
Forschung muss schneller, praxisnäher und umsetzungsorientierter werden.
Politik- und Praxisrelevanz als zentrales Förderkriterium.
Kooperation von Universitäten und Gesundheitssystemen zur Schließung der „Implementation Gap“.
Ziel: Wissenschaft, Lehre und Versorgung wieder in den Dienst von Gesundheit und Gesellschaft stellen.
Literatur
Saxena S, O’Ryan M, Baum F. Vision 2050: a revolution in academic medicine for better health for all. BMJ 2025;389:r561. doi: https://doi.org/10.1136/bmj.r561
Pupeza I, Huber M, Trubetskov M, et al. Field-resolved infrared spectroscopy of biological systems. Nature 2020;577(7788):52–9. doi: https://doi.org/10.1038/s41586-019-1850-7
Castelvecchi D, Sanderson K. Physicists who built ultrafast ‘attosecond’ lasers win Nobel Prize. Nature 2023;622(7982):225–7. doi: https://doi.org/10.1038/d41586-023-03047-w
ABDA – Bundesvereinigung Deutscher Apothekenverbände, Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG), Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV), et al. Gemeinsam für ein starkes, resilientes Gesundheitssystem – Partnerschaftliche Lösungen für die Gesundheitsversorgung der Zukunft. 2025. https://www.kbv.de/documents/positionen/agenda/gemeinsame_positionierung_kbv_kzbv_abda_dkg.pdf (accessed 10 Oct 2025).
Virchow R. Der Armenarzt. In: Die medicinische Reform. 1848. 125.














