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Maßband oder Waage – und werden GLP-1-RA jetzt zu „Herz-Arzneien“?
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Maßband oder Waage – und werden GLP-1-RA jetzt zu „Herz-Arzneien“?

Über eine neue Auswertung der SELECT-Studie mit ▼ Semaglutid

Guten Tag, liebe Freundinnen und Freunde der Gewichtsreduktion! Zugegeben, im Moment sind wir sehr inkretinmimetisch unterwegs, greifen etliche Publikationen zu GLP-1-Rezeptor-Agonisten auf. Wir gehen streng davon aus, dass das weniger mit einem persönlichen Bauch-Bias zu tun hat als vielmehr mit einem Publikationsbias: Allein in diesem Jahr sind per 5. November in Pubmed bereits 5.062 Veröffentlichungen1 gelistet. Wie geloben Besserung und werden wieder andere Themen bringen!

Aber diese heutige Episode muss sein, denn die jüngste Auswertung der SELECT-Studie zu ▼ Semaglutid (Wegovy® und Ozempic®) von Novo Nordisk hat ein so großes Medienecho erhalten, dass eine Einordnung nötig scheint.

Plus für alle hier: die Zusammenfassung unseres Gesprächs, die SELECT-Auswertung von Deanfield et al. „in a nutshell“ und natürlich die Literatur.
Plus für alle Unterstützer zu dieser Episode:

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Jetzt aber zu der Arbeit, bei der im Rahmen der (von Novo Nordisk gesponserten) SELECT-Studie kardiovaskuläre Endpunkte untersucht wurden bei Menschen mit Adipositas und OHNE Diabetes mellitus im Vergleich Semaglutid vs. Placebo:

Die Ergebnisse wirken zunächst wie ein Paukenschlag, jedenfalls sind sie von etlichen Medien zu verkauft worden: Weniger Herzinfarkt und Schlaganfall, und das ziemlich flott nach Therapiebeginn.

Doch bevor Sektkorken knallen, erst einmal Ernüchterung: Die Verbesserungen sind zwar statistisch spannend, aber so knapp, dass sie uns an ein Siegtor in der Nachspielzeit erinnern. Und spätestens bei den Kosten von 2.000 Euro pro Patient und Jahr für die Abnehmspritze zieht das Portemonnaie die Notbremse.

Ein echtes Highlight ist – wie so oft – der Unterschied zwischen relativer und absoluter Risikoreduktion: 20 Prozent klingt nach „Rettung für Millionen“, die ARR ist jedoch erwartbar viel bescheidener. Immerhin: Eine NNT von rund 67 finden wir interessant. Wenn halt die hohen Kosten nicht wären und die oberen 95-Prozent-Konfidenzintervalle nicht gnadenlos an der 1 kratzen würden.

Die interessante Nachricht der Arbeit, mindestens als klinische Hypothese ist das Indiz, dass das Maß der Dinge nicht die Waage ist, sondern das Maßband. Wer weniger Bauchumfang hat, gewinnt.

Für Jubelparolen ist es freilich viel zu früh. Denn die vorliegende Arbeit hat etliche Limitationen, das Studiensponsoring vom Semglutid-Hersteller Novo Nordisk ist nur eine.

Fazit: Der Herzschutz durch Semaglutid ist ein spannendes Signal, aber noch kein medizinischer „Game Changer“. Wer jetzt schon Pläne für ein Bad in der Adipositas-freien Zukunft schmiedet, sollte lieber das Maßband raussuchen und noch ein bisschen Demut im Gepäck behalten – Fortsetzung folgt!


Die letzten beiden Stories zur GLP-1-Rezeptor-Agonisten:

In a Nutshell – Deanfield et al.

PICO-Schema

P(opulation)

  • Erwachsene ab 45 Jahren mit BMI ≥ 27 kg/m²

  • Nachgewiesene kardiovaskuläre Erkrankung (Myokardinfarkt, Schlaganfall oder symptomatische pAVK)

  • Kein Diabetes (Ausschluss bei HbA1c ≥ 6,5% bzw. bestehender Diabetesdiagnose)

  • Insgesamt 17.604 Teilnehmer, rekrutiert in 41 Ländern, 804 Zentren

I(ntervention)

  • Semaglutid 2,4 mg s.c., 1× wöchentlich, als Zusatz zur Standardtherapie

  • Dosis-Eskalation über 16 Wochen bis zur Zieldosis

C(omparison)

  • Placebo, mit identischer Injektion und Maskierung

O(utcome)

  • Primärer Endpunkt: Zeit bis zum ersten MACE (kardiovaskulärer Tod, nicht-tödlicher Myokardinfarkt oder Schlaganfall)

  • Nebenaspekte: Zusammenhänge zwischen Gewichts- und Taillenumfangs-Veränderungen und MACE-Risiko

  • Adipositas-Maße: Körpergewicht, Taillenumfang

Einschlusskriterien & Baseline-Charakteristika

  • BMI-Mittelwert stieg in den höheren Gruppen auf bis zu 44,5 kg/m²

  • Je höher der BMI, desto mehr weibliche Teilnehmer: max. 45,5% bei ≥40 kg/m²

  • Überwiegend Weiße (77,0–86,6%), Fokus aus Europa und Nordamerika

  • Bei 59,7–69,4% Myokardinfarkt in der Patientengeschichte

Ergebnisse & Hazard Ratios

  • Semaglutid reduzierte kardiovaskuläre Ereignisse (MACE) gegenüber Placebo in allen untersuchten Subgruppen

  • Der Hazard-Ratio (HR) für MACE nach Woche 20 lag für Semaglutid vs. Placebo bei 0,80 (95% CI 0,72-0,90).

    • Absolute Risiken: 6,5 vs. 8,0% = 1,5% ARR (abs. Risiko-Reduktion) = 66,7 NNT

  • Nach Woche 20

    • Bei ≥ 5% Gewichtsverlust war die MACE-HR am niedrigsten:
      0,65 (95% CI 0,50–0,84)

    • ≥4 bis <8 cm Bauchumfangsverlust mit geringerem MACE-Risiko:
      HR 0,75 (95% CI 0,58–0,97)

    • Aber nicht bei ≥8 cm: HR 0,81 (95% CI 0,56–1,20)

  • Placebo-Patienten mit ≥ 5% Gewichtsverlust zeigten paradoxerweise die höchste MACE-Rate: Inzidenz-Rate (IR) 31/1000 (95% CI 24–38), vermutlich durch krankheitsbedingten Gewichtsverlust

  • Linearer Zusammenhang unter Semaglutid: Höherer Gewichtsverlust und stärkere Reduktion des Taillenumfangs sind mit geringerem MACE-Risiko verbunden; bei Placebo kein linearer Trend

  • 33% des kardiovaskulären Nutzens von Semaglutid wurden über die Reduktion des Taillenumfangs vermittelt, der Hauptteil bleibt mechanistisch ungeklärt

Methodische Limitationen & Fragen

  • Überwiegend Weiße, männliche Studienpopulation → eingeschränkte Generalisierbarkeit für andere Ethnien und für Frauen

  • Keine formalen Messungen der Körperzusammensetzung (Fett vs. Muskelmasse)

  • Beobachtung von Gewichtsverlust bei Placebo-Gruppen mit erhöhtem MACE (mögliche Komorbiditäten)

  • Analyse der Auswirkungen von Gewicht- und Taillenverlust ist innerhalb der Gruppen beobachtend und kann kausale Zusammenhänge nicht sicher belegen

  • Begrenzte Aussagekraft für sehr adipöse oder sehr alte Patienten; Selektionsbias möglich

  • Keine gezielte Lebensstilintervention; Standard-Care wurde klinisch optimiert, aber nicht experimentell gesteuert

  • 33% des Semaglutid-MACE-Vorteils werden durch Taillenumfangsveränderung erklärt; Mehrzahl der kardioprotektiven Effekte bleibt mechanistisch ungeklärt

  • Patienten mit frischem (bis 60d vor Rekrutierung) Infarkt, Schlaganfall oder pAVK wurden ausgeschlossen

  • Daten für Nicht-Weiße und für Frauen sind limitiert; mögliche Unterschiede zwischen Ethnien und Geschlechtern

  • Nebenwirkungen, Verträglichkeit, und Abbruchraten wurden berichtet, aber beeinflussen die Extrapolation auf reale Settings

Literatur

  1. Deanfield J, Lincoff AM, Kahn SE, et al. Semaglutide and cardiovascular outcomes by baseline and changes in adiposity measurements: a prespecified analysis of the SELECT trial. Lancet Published Online First: 2025. doi: https://doi.org/10.1016/s0140-6736(25)01375-3

  2. Lincoff AM, Brown-Frandsen K, Colhoun HM, et al. Semaglutide and Cardiovascular Outcomes in Obesity without Diabetes. N Engl J Med 2023;389(24):2221–32. doi: https://doi.org/10.1056/nejmoa2307563

  3. Nößler D, Scherer M. Semaglutid und Tirzepatid – Game-Changer bei HFpEF mit Typ-2-Diabetes? EvidenzUpdate. 2025. https://www.evidenzupdate.de/p/semaglutid-und-tirzepatid-game-changer (accessed 4 Nov 2025).

  4. Semaglutid: Herz-Kreislauf-Risiko kann auch bei wenig Gewichtsabnahme sinken. Deutsches Ärzteblatt. 2025. https://www.aerzteblatt.de/news/semaglutid-herz-kreislauf-risiko-kann-auch-bei-wenig-gewichtsabnahme-sinken-6f53f6cd-86db-44f8-abfd-9f541027a61e (accessed 4 Nov 2025).

  5. Bajrica A. Abnehmspritze kann mehr – Wegovy schützt das Herz: Forscher entdecken neuen Nutzen des Medikaments. Offenbach Post. 2025. https://www.op-online.de/welt/abnehmspritze-kann-mehr-wegovy-schuetzt-das-herz-forscher-entdecken-neuen-nutzen-des-medikaments-zr-94007302.html (accessed 4 Nov 2025).

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