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PCI, KHK, ACS, Infarkt – hat ASS ausgedient?
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PCI, KHK, ACS, Infarkt – hat ASS ausgedient?

Über die große „Aspirin-Verschwörung“

Seid gegrüßt, Freundinnen und Freunde der Gerinnungskaskade. Ende September ist die Filmpreissaison für dieses Jahr zwar durch, aber wir hätten für die kommende einen Kandidaten, denn demnächst zu sehen auf den Leinwänden der klinischen Kleinkunst: Die Aspirin-Verschwörung. Hier schon einmal das Filmplakat zur Ankündigung. Auch Teile des Drehbuchs sind schon geleakt, wir berichten und sprechen darüber – in dieser Episode vom EvidenzUpdate.

Im Ernst: Für unser heutiges Gespräch haben wir gleich fünf neue Publikationen, die sich alle mit dem Stellenwert von ASS in diversen KHK-Indikationen beschäftigen. Wir besprechen drei RCT und zwei IPD-Metaanalysen. Spoiler: ASS ist sauer.

Plus für alle zu dieser Episode: die Zusammenfassung, die Literatur und die besprochenen fünf Studienarbeiten in Kürze.
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Der heutige Stellenwert von Acetylsalicylsäure (ASS) ist bekannt: einmal ASS, immer ASS. Wenn es einmal verordnet ist, dann nehmen es die Patientinnen und Patienten bis zum Ende. Doch die fünf Arbeiten rütteln am Thron, auf dem ASS heute steht, aber eben nicht gänzlich. Gießen wir gleich etwas Wasser in den Wein:

NEO-MINDSET bremst die ASS-„Absetzeuphorie“ nämlich erst einmal. Die brasilianische Studie mit rund 3.400 ACS-Patienten nach einer PCI ist fast wie Fallschirmspringen ohne Rucksack, weil im Interventionsarm binnen vier Tagen nach Hospitalisierung nur Ticagrelor oder Prasugrel gegeben wurde, im Kontrollarm die duale Plättchenhemmung (DAPT) fortgeführt wurde. Im Ergebnis gab es nach 12 Monaten unter der Monotherapie zwar weniger Blutungsereignisse (2,0 vs. 4,9 %). Aber der primäre Endpunkt (ein Komposit aus Tod jeder Genese, Infarkt, Schlaganfall, Revaskularisation) trat unter Mono häufiger auf als unter DAPT (7,0 vs. 5,5 %). Stent-Thrombosen traten bei 12 vs. 4 Patienten auf.

Heißt: Die Nichtunterlegenheit der Monotherapie wurde verfehlt, ASS sollte nach PCI nicht zu schnell abgesetzt werden. Soweit zur Aspirin-Absetzeuphorie.

TARGET-FIRST bringt etwas mehr Licht ins Spiel, es ist ein kleiner Paradigmenwechsel, aber nur für eine klar definierte Gruppe. Denn in diesem europäischen RCT zeigte sich bei den knapp 2.000 ACS-Patienten mit niedrigem Risiko, dass sie nach Revaskularisation und 1 Monat DAPT auf ASS verzichten konnten: Binnen der folgenden 11 Monate war die P2Y12-Monotherapie der fortgesetzten DAPT nicht unterlegen. Der Komposit (Tod jeder Ursache, Infarkt, Stent-Thrombose, Schlaganfall, schwere Blutung) trat bei 2,1 vs. 2,2 % der Patienten auf. Blutungen (BARC 2, 3 oder 5) traten unter Monotherapie seltener als unter fortgesetzter DAPT auf (2,6 vs. 5,6 %).

Heißt: Weniger kann manchmal mehr sein, vorausgesetzt, ich wende es richtig auf das Setting an und habe mir die Patientenpopulation gut ausgesucht.

AQUATIC ist die U-Boot-Mission dieses Studienreigens, allerdings bei einer anderen Population. Hier geht es um Menschen mit einer chronischen KHK und ein hohes atherothrombotisches Risiko. Gegenüber der oralen Antikoagulation alleine stellt sich die Kombination mit ASS als „toxisches Duo“ heraus: Von den 872 Patienten aus Frankreich hatten nach medianem Follow-up von 2,2 Jahren 16,9 % mit ASS ein primäres Ereignis, unter OAK alleine 12,1 %. Deshalb wurde die Studie vorzeitig beendet. Primärer Endpunkt war ein Komposit aus kardiovaskulärem Tod, Infarkt, Schlaganfall, Embolie, Revaskularisierung, akute Extremitätemischämie. Auch Tod jeder Ursache war unter Kombi mit ASS häufiger als unter OAK alleine (13,4 vs. 8,4 %). außerdem schwere Blutungen (10,2 vs. 3,4 %).

Heißt: Zusammen richten die beiden einfach mehr Schaden an, als sie nutzen. Oder: „Wenn jemand mit einer oralen Antikoagulation bei uns sitzt, dann bleibt ASS eigentlich draußen, und zwar zum Schutz des Patienten.“

PROSPERO I liefert uns einen systematischen Review mit Metaanalyse individueller Patientendaten zu Clopidogrel vs. ASS in der Sekundärprävention bei KHK. In den Daten aus 7 RCT mit fast 29.000 Patienten und medianem Follow-up von 2,3 Jahren gab es unter Clopidogrel weniger MACCE als unter ASS: 2,61 vs. 2,99 Ereignisse (= 0,38 ARR = NNT 263). Der MACCE-Vorteil war getrieben von weniger Infarkten und weniger Insulten, bei der Mortalität gab es keinen Unterschied.

Heißt: Clopidogrel kratzt am Sockel, auf dem das ASS seit Jahrzehnten thront.

PROSPERO II liefert eine noch bessere NNT, allerdings in einem anderen Setting. Hier wurden die rund 16.000 Patienten nach einer PCI und kompletter anschließenden DAPT (im Mittel 12 Monate) umgestellt auf die Monotherapie Ticagrelor bzw. Clopidogrel oder ASS. Nach weiteren median knapp 4 Jahren gab es unter P2Y12 (knapp 60 % erhielten Ticagrelor) weniger MACCE als unter ASS: Hazard Ratio 0,77, Number Needed to Treat to Benefit (NNTB) 45,5.

Heißt: ASS ist kein Allrounder mehr. Nach PCI bei akutem Koronarsyndrom sollte es nicht zu früh abgesetzt werden, mahnt NEO-MINDSET. Bei Niedrig-Risiko-Patienten kann nach einem Monat dualer Plättchenhemmung der Wechsel auf zum Beispiel Clopidogrel erwogen werden, zeigt TARGET-FIRST. Bei OAK-Patienten ist zusätzlich ASS schädlich, zeigt AQUATIC.

Mit anderen Worten:

Tradition kann in der Medizin eben kein Argument sein. Jede Tablette im Blister hat nur dann ihre Berechtigung, wenn sie wirklich nachweislich nutzt.

Die Studien in Kürze

NEO-MINDSET

  • Fragestellung: Potente P2Y12-Inhibitor-Monotherapie vs. Duale Plättchenhemmung (DAPT) nach frischer PCI bei akutem Koronarsyndrom: Kann man ASS sofort absetzen?

  • Population: 3.410 Patient:innen in Brazilien mit ACS (62,1 % STEMI), erfolgreiche PCI, keine OAK, 29 % Frauen, mittleres Alter ca. 60 Jahre, 43,9 % mit Mehrgefäßerkrankung.

  • Intervention/Kontrolle: Sofortiges ASS-Absetzen, P2Y12-Hemmer (Prasugrel, Ticagrelor) als Monotherapie vs. DAPT für 12 Monate.

  • Ein-/Ausschluss: Eingeschlossen ACS-Patienten mit PCI binnen 4 Tagen, ausgeschlossen: geplanter DAPT <12 Monate, OAK, akute Blutung, hohes Blutungsrisiko.

  • Outcomes: Primärer Endpunkt (Tod, Infarkt, Schlaganfall, Revasc) nach 12 Monaten: Monotherapie war der DAPT nicht non-inferior (7,0 vs. 5,5 %, p=0,11; Stent-Thrombosen 0,7 vs. 0,2 %). Weniger Blutungen (2,0 vs. 4,9 %), dennoch Absetz-Strategie gescheitert.

  • Limitationen: Open-label, viele Patienten mit geringem Blutungsrisiko, v.a. STEMI, kaum komplexe PCI, kaum OAK, Pragmatismus in der Wahl des P2Y12-Hemmers.

  • Fazit/Einordnung: Kein früher vollständiger ASS-Verzicht nach ACS und PCI; das Risiko (v.a. Stentthrombosen) überwiegt; klassische DAPT bleibt Standard.

TARGET-FIRST

  • Fragestellung: Kann bereits nach 1 Monat DAPT auf P2Y12-Inhibitor-Monotherapie umgestellt werden – ohne Nachteile?

  • Population: 1.942 randomisierte Patient:innen in 40 europäischen Kliniken mit akutem Myokardinfarkt (STEMI/NSTEMI je hälftig), komplett revaskularisiert, keine frühen Komplikationen, niedrige Risikozeichen.

  • Intervention/Kontrolle: Nach 1 Monat DAPT: P2Y12-Monotherapie (meist Ticagrelor/Prasugrel, seltener Clopidogrel) vs. Fortführung DAPT.

  • Ein-/Ausschluss: Eingeschlossen rezenter Myokardinfarkt, vollständige Revaskularisation, niedrige Risiko-Konstellation; Ausgeschlossen: komplexe PCI, OAK, relevante Komorbiditäten.

  • Outcomes: Primärer Endpunkt (Tod, Infarkt, Stent-Thrombose, Schlaganfall, Blutung) nach 11 Monaten: Nicht unterlegen (2,1 vs. 2,2 %). Relevante Blutungen deutlich seltener (2,6 vs. 5,6 %), keine häufigeren ischämischen Komplikationen.

  • Limitationen: Hochselektionierte, besonders niedrigriskante Patienten, keine Power für seltene Ereignisse.

  • Fazit/Einordnung: Bei Low-Risk-Patienten nach vollständiger und unkomplizierter PCI kann nach 1 Monat auf P2Y12-Monotherapie gewechselt werden; „Weniger ist mehr“ gilt also nur für diese eng definierte Gruppe.

AQUATIC

  • Fragestellung: Ist die Kombination OAK + ASS sicher und wirksam bei stabiler KHK nach Stent und hohem Thromboserisiko?

  • Population: 872 Patient:innen mit chronischer KHK, vorherigem Stent (>6 Monate zurück), hohem Atherothromboserisiko, 89 % Vorhofflimmern, Alter ca. 72 J, überwiegend Männer, 60 % Apixaban.

  • Intervention/Kontrolle: OAK (DOAK oder VKA [ca. 10 %]) + ASS 100 mg vs. OAK + Placebo.

  • Ein-/Ausschluss: Eingeschlossen: KHK mit Stent >6 M., hohes Risiko; Ausgeschlossen: geplanter DAPT <12 M., Indikation für Thrombozytenaggregationshemmer außer ASS.

  • Outcomes: Primärer Endpunkt (Tod, Infarkt, Schlaganfall etc.) häufiger im ASS-Arm (16,9% vs. 12,1%, HR 1,53). Höhere Gesamtmortalität und mehr schwere Blutungen (HR 3,35!). Studie vorzeitig beendet.

  • Limitationen: Studie in Frankreich, wenig Frauen, relativ selten VKA, frühes Studienende.

  • Fazit/Einordnung: OAK + ASS ist bei stabiler KHK nach Stent eindeutig schädlich – keine Routinekombination; starke Argumente für „ASS-freie“ OAK-Strategien.

PROSPERO (Valgimigli et al.)

  • Fragestellung: Ist Clopidogrel Monotherapie besser als ASS-Monotherapie für die KHK-Sekundärprävention?

  • Population: 28.982 Patient:innen mit KHK, aus 7 RCTs, meist PCI-Patienten, medianes Follow-up 2,3 Jahre (IQR 1,1–4,0).

  • RCTs: ASCET, CADET, CAPRIE, HOST-EXAM, SMART-CHOICE 3, STOPDAPT-2, STOPDAPT-3.

  • Intervention/Kontrolle: Clopidogrel vs. ASS als Monotherapie – nach DAPT oder von Anfang an.

  • Outcomes: Major Adverse Cardiac/Cerebrovascular Events (MACCE): Clopidogrel signifikant besser (HR 0,86; 2,61 vs. 2,99 Ereignisse je 100 Patientenjahre = ARR 0,38 = NNT 263), v.a. wegen weniger Infarkte/Schlaganfälle, keine Differenz bei schwerer Blutung oder Mortalität.

  • Limitationen: Bevorzugt asiatische Studienpopulation (ca. 67 %); kein direkter Vergleich mit Placebo; keine systematische genetische Testung bzgl. Clopidogrel-Resistenz.

  • Fazit/Einordnung: Clopidogrel scheint ASS in der Sekundärprävention überlegen, ohne erhöhtes Blutungsrisiko; die alten ASS-Dogmen wackeln.

PROSPERO (Giacoppo et al.)

  • Fragestellung: Wie schneidet nach PCI und Beendigung einer DAPT die nachfolgende P2Y12-Inhibitor-Monotherapie gegenüber ASS-Monotherapie ab?

  • Population: 16.117 Patient:innen aus 5 RCTs nach PCI (überwiegend Clopidogrel/Ticagrelor, kein Prasugrel), medianes Follow-up nach DAPT ~3,7 Jahre, ca. 60 % ostasiatisch.

  • RCTs: ASCET, CAPRIE, GLASSY, HOST-EXAM, STOPDAPT-2

  • Intervention/Kontrolle: P2Y12-Inhibitor-Monotherapie vs. ASS nach abgeschlossener DAPT.

  • Outcomes: MACCE niedriger unter P2Y12-Hemmer (HR 0,77), keine Erhöhung schwerer Blutungen, deutlicher Vorteil bei MI und Schlaganfällen, ohne Anstieg der Mortalität.

  • Limitationen: Kaum Patient:innen >75 Jahre, underpowered für seltene Endpunkte wie Stentthrombose, hohe Studienheterogenität bei „any bleeding“.

  • Fazit/Einordnung: Nach PCI und DAPT ist die P2Y12-Inhibitor-Monotherapie der ASS-Monotherapie langfristig überlegen; neue Leitlinienanpassungen sind absehbar.

Literatur

  1. Guimarães PO, Franken M, Tavares CAM, et al. Early Withdrawal of Aspirin after PCI in Acute Coronary Syndromes. N Engl J Med Published Online First: 2025. doi: https://doi.org/10.1056/nejmoa2507980

  2. Tarantini G, Honton B, Paradies V, et al. Early Discontinuation of Aspirin after PCI in Low-Risk Acute Myocardial Infarction. N Engl J Med Published Online First: 2025. doi: https://doi.org/10.1056/nejmoa2508808

  3. Lemesle G, Didier R, Steg PG, et al. Aspirin in Patients with Chronic Coronary Syndrome Receiving Oral Anticoagulation. N Engl J Med Published Online First: 2025. doi: https://doi.org/10.1056/nejmoa2507532

  4. Valgimigli M, Choi KH, Giacoppo D, et al. Clopidogrel versus aspirin for secondary prevention of coronary artery disease: a systematic review and individual patient data meta-analysis. Lancet2025;406(10508):1091–102. doi: https://doi.org/10.1016/s0140-6736(25)01562-4

  5. Giacoppo D, Gragnano F, Watanabe H, et al. P2Y12 inhibitor or aspirin after percutaneous coronary intervention: individual patient data meta-analysis of randomised clinical trials. BMJ2025;389:e082561. doi: https://doi.org/10.1136/bmj-2024-082561

  6. Hicks KA, Stockbridge NL, Targum SL, et al. Bleeding Academic Research Consortium Consensus Report. Circulation 2011;123(23):2664–5. doi: https://doi.org/10.1161/circulationaha.111.032433

  7. Doshi P. Doubts over landmark heart drug trial: ticagrelor PLATO study. BMJ 2024;387:q2550. doi: https://doi.org/10.1136/bmj.q2550

  8. Doshi P. Ticagrelor doubts: inaccuracies uncovered in key studies for AstraZeneca’s billion dollar drug. BMJ 2025;389:r1201. doi: https://doi.org/10.1136/bmj.r1201

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