Unser Leben ist ein einziger Mix aus Chance und Risiko – mit der Chance für eine gute Zeit auf diesem Planeten und dem absolut sicheren Risiko, letztlich zu sterben. Doch mit der Wahrnehmung von Chance und Risiko haben wir so unsere Probleme. Gerade in der Pandemie wird das bei der Patientenaufklärung deutlich. Zeit für eine Anleitung, die wir in dieser Episode vom „EvidenzUpdate“-Podcast versuchen – konkret am Beispiel der unerwünschten Wirkungen von COVID-19-Vakzinen.
Anhand der Sicherheitsberichte des Paul-Ehrlich-Instituts überlegen wir, in welchem Verhältnis die bekannten Risiken stehen. Und wir stellen grundsätzliche Überlegungen zu Risiken und unserer Wahrnehmung darauf an. Nebenbemerkung: Wir thematisieren auch die Adult Development Study, die der Frage nach Glück in der Ehe nachgeht. Diese Arbeit hat nur den Effekt auf Männer untersucht.
Literatur
Verkehrsunfallkalender. Destatis. https://service.destatis.de/DE/verkehrsunfallkalender/ (accessed 20 Jan 2022).
Nutzungshäufigkeit eines Autos in Deutschland 2020. Statista. https://de.statista.com/statistik/daten/studie/182654/umfrage/nutzungshaeufigkeit-eines-autos/
Bevölkerungspyramide: Altersstruktur Deutschlands von 1950 - 2060. Destatis. https://service.destatis.de/bevoelkerungspyramide/index.html#
Sterbeziffern nach Alter und Geschlecht in Deutschland 2020. Statista. https://de.statista.com/statistik/daten/studie/3057/umfrage/sterbeziffern-nach-alter-und-geschlecht/ (accessed 20 Jan 2022).
Paul-Ehrlich-Institut. Verdachtsfälle von Nebenwirkungen und Impfkomplikationen nach Impfung zum Schutz vor COVID-19 seit Beginn der Impfkampagne am 27.12.2020 bis zum 30.11.2021. PEI. https://www.pei.de/SharedDocs/Downloads/DE/newsroom/dossiers/sicherheitsberichte/sicherheitsbericht-27-12-20-bis-30-11-21.pdf?__blob=publicationFile&v=9 (accessed 20 Jan 2022).
Harvard Second Generation Study. https://www.adultdevelopmentstudy.org/
Barnum-Effekt. Wikipedia. https://de.wikipedia.org/wiki/Barnum-Effekt (accessed 20 Jan 2022).
Hossiep R. Forer-Effekt im Dorsch Lexikon der Psychologie. dorschhogrefecom Published Online First: 2019. https://dorsch.hogrefe.com/stichwort/forer-effekt (accessed 20 Jan 2022).
Transkript
NÖßLER: Unser Leben ist ein einziger Mix aus Chance und Risiko. Mit dem Risiko für eine gute Chance auf diesem Planeten und der absolut sicheren Chance, letztlich irgendwann sterben zu müssen. Doch mit der Wahrnehmung von Chance und Risiko, damit haben wir so unsere Probleme. Gerade in der Pandemie wird das bei der Patientenaufklärung wieder deutlich. Zeit für eine Anleitung.
Scherer: Stopp. Stopp. Und damit herzlich willkommen zu einer neuen Episode des Evidenz Update Podcasts, wollten Sie jetzt sagen, Herr Nößler.
NÖßLER: Das wäre jetzt das gewesen, was gekommen wäre. Sie sind mir ins Wort gefallen.
Scherer: Tut mir leid. Ich muss da jetzt einmal kurz einhaken, denn Sie fangen in Ihrem Intro schon an mit einem Mix aus Chance und Risiko und verwirren schon gleich im Intro die Zuhörerinnen und Zuhörer. Also jedenfalls diejenigen, die bei dem Intro wirklich zuhören.
NÖßLER: Oha.
Scherer: Sie machen zwei Dimensionen auf: Die Chance ist positiv besetzt, das Risiko natürlich eher negativ. Also Sie werfen schon gleich im Intro die Gesundheitschancen und die Gesundheitsrisiken munter durcheinander. Das ist ganz schön komplex, gleich im Intro.
NÖßLER: Ja. Das ist auch mit Absicht, Herr Scherer. Ich würde sagen: Danke an dieser Stelle, dass Sie meine gesamten Überlegungen konterkariert haben für die heutige Aufzeichnung. Ich würde sagen, jetzt machen wir Folgendes: Wir stellen uns noch mal ordentlich vor für alle, die den Podcast nicht kennen und dann reden wir über Chance versus Risiko, okay?
Scherer: Wir, das sind…
NÖßLER: Dennis Nößler.
Scherer: Chefredakteur der Ärztezeitung aus dem Hause Springer Medizin. Und ich bin Martin Scherer, Präsident der deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin, DEGAM.
NÖßLER: Völlig andersrum, Herr Scherer. Super, großartig. Moin.
Scherer: Moin, Herr Nößler. Entschuldigung für die Unterbrechung, ich musste da einmal kurz einhaken.
NÖßLER: Ja, ist dann ja auch im Zweifel für den, der reingegrätscht ist, hätte ich jetzt fast gesagt, für den Angeklagten. Chance und Risiko. Was ist das Problem, Herr Scherer, wenn wir es in einen Kessel werfen?
Scherer: Naja, dass das zwei unterschiedliche Dimensionen sind und dass die Gesundheitsrisiken negativ besetzt sind. Da geht es um Adverse Events, da geht es um Mortalität, da geht es um Vortestwahrscheinlichkeit. Die Chancen, denken Sie an das Glücksspiel: Ich würfle eine sechs, ich gewinne im Lotto und so weiter, positiv besetzt.
NÖßLER: Aus Sicht der Bank bei dem Glücksspiel ist die Chance, die jemand hat, zu gewinnen, natürlich ein Risiko, nämlich auszahlen zu müssen. Das ist eine Frage der Perspektive.
Scherer: Da ist es auf jeden Fall eine Perspektivenfrage, richtig, ja.
NÖßLER: Ja. Gut, aber am Ende, da sind wir uns einig: Chance und Risiko sind zwei unterschiedliche Dimensionen ein und desselben Sachverhalts, nämlich von Wahrscheinlichkeiten, oder?
Scherer: Das ist genau das Entscheidende. Wobei, bei der Chance es sich um die Wahrscheinlichkeit für ein positives Ereignis handelt und bei dem Risiko um die Wahrscheinlichkeit für ein negatives Ereignis. Das genau ist der Punkt.
NÖßLER: Und das müssen wir dann verhandeln: Was ist positiv, was ist negativ? Das ist jetzt bei einem Leiden, im Zweifel sogar bei dem Thema Tod, ist das, glaube ich, relativ klar, dass das jetzt nicht zwingend etwas Positives ist. Herr Scherer, vielleicht war das jetzt auch ganz gut, dass Sie da mal reingegrätscht sind, dann haben wir nämlich direkt jetzt mal eine Sache aufgeräumt an der Stelle (mein rhetorischer Trick hat funktioniert). Jetzt würde ich Sie gerne mal über das Thema Risiko befragen. Das ist das Thema, mit dem wir uns heute beschäftigen wollen: Risikoaufklärung, aber ein Stück weit auch Nutzenaufklärung. Und die Hörerinnen und Hörer ahnen es: Es geht natürlich am Ende wieder auch um die Impfung. Herr Scherer, haben Sie sich heute Morgen nach dem Aufstehen gefragt, wie hoch Ihr Risiko heute sein könnte, dass Sie in einen Verkehrsunfall verwickelt werden?
Scherer: Habe ich jetzt nicht gemacht, aber zwischen Aufstehen und Auto fahren liegen ja noch ein paar andere häusliche Aktivitäten. Man müsste sich ja eigentlich erst mal fragen: Wie komme ich heile in die Dusche? Wie komme ich heile aus der Dusche raus? Wie hoch ist das Risiko des Treppensturzes auf dem Weg in die Küche? Da hat es mich nämlich auch schon mal erwischt, auf dieser Treppe. Und wie wahrscheinlich ist es dann, dass ich mir mit dem Teewasser nicht die Hände verbrühe? Also, worauf ich hinaus will: Die Risiken, die sind absolut vielfältig und da müsste man eigentlich erst mal ein Risiko Assessment machen, damit man keins vergisst. Klar können wir jetzt mit dem Auto fahren, einsteigen, aber es gibt eben noch viele, viele andere Risiken, die wir gar nicht auf dem Radarschirm haben.
NÖßLER: Ich hätte da noch eine: Wenn Sie morgens wach werden, mit oder ohne Wecker, das ist hierbei vielleicht zunächst unerheblich, das Risiko, überhaupt aus dem Bett aufzusteigen für eine OSG Luxation zum Beispiel oder USG, je nachdem, was Sie wollen.
Scherer: Erstens das oder man patscht ungelenk auf dem Wecker rum und verletzt sich dabei. Der Wecker fällt auf das Gesicht oder was weiß ich.
NÖßLER: Gut. Ich würde tatsächlich aber, bevor wir in das Risiko Assessment eingehen und vielleicht mal überlegen, über welche Risiken sollte man sich denn sinnvollerweise überhaupt Gedanken machen: Würde Sie es interessieren, wie hoch Ihr Unfallrisiko heute Morgen ist?
Scherer: Also gleich, wie hoch mein Interesse ist, ich werde Sie nicht davon abhalten können, dass Sie es mir mitteilen.
NÖßLER: Ja, ich hätte die Frage vielleicht anders stellen können. Okay. Ich werde Ihnen das jetzt zwangsweise mitteilen, weil ich bin ganz stolz. Ich habe es ausgerechnet und das ist auch vielleicht für die Hörerinnen und Hörer ganz interessant, das habe ich nämlich dann durch Zufall gefunden: Bei dem statistischen Bundesamt gibt es einen Verkehrsunfallkalender, gibt es tatsächlich, der wird verlinkt. Und da kann man tatsächlich gucken, an welchen Wochentagen in welchem Monat es wie viele Unfälle gab mit welchen beteiligten Fortbewegungsmitteln. Und danach gab es an den dritten Dienstagen im Januar seit 2005 im Mittel rund siebenhundert PKW-Unfälle in der gesamten Republik, bei Bundesbürgern ab 14 Jahren. Die nutzen nämlich täglich einen PKW, weiß man auch. Und das sind 72,7 Millionen. Das heißt, Herr Scherer, Ihr Risiko heute Morgen war siebenhundert zu 72,7 Millionen. Das ist in Prozent dann ziemlich dünn, oder?
Scherer: Also das muss irgendwas ganz Kleines sein. Ich vermute mal, ein Tausendstel Prozent vielleicht?
NÖßLER: Ist es nicht sogar ein Zehntausendstel?
Scherer: 0,001 Prozent, hätte ich jetzt gedacht, ist ein Tausendstel Prozent.
NÖßLER: Ach so, Sorry – jetzt war ich ausgestiegen –, ein Tausendstel Prozent. Und jetzt mal Hand aufs Herz, Herr Scherer: Was fange ich dann mit so einer Zahl an? Was würden Sie mit so einer Zahl anfangen morgens?
Scherer: Relativ wenig. Also Sie haben mir jetzt, glaube ich, das Ganze nicht aufgeschlüsselt nach Fußweg versus Radfahren versus Auto fahren. Sie haben es mir nicht aufgeschlüsselt nach Stadtverkehr, Autobahn oder Landstraße. Und dann sind das natürlich unglaublich kleine Zahlen. Und dann zeigt uns dieser Mix Ihrer Zahlen auch wieder die zwei unterschiedlichen Welten: Absolute und relative Häufigkeit. Stellen Sie sich vor, Herr Nößler, heute nach der Podcast Aufnahme spielen wir eine Partie Mensch, ärgere dich nicht. Ich würfle dreißig Mal eine sechs, dann weiß ich gar nicht, ob das gut ist oder schlecht ist. Kommt drauf an, wie lange wir gespielt haben.
NÖßLER: Für mich wäre es ein Risiko.
Scherer: Inwiefern?
NÖßLER: Naja, denn Sie kommen einfach schneller vorwärts.
Scherer: Naja, gut. Aber es kommt darauf an, wie viele Versuche ich gebraucht habe für diese dreißig Sechsen.
NÖßLER: Stimmt.
Scherer: Also, ob ich hundert Mal gewürfelt habe, dann haben wir 30 Prozent, dann habe ich eine dreißigprozentige Wahrscheinlichkeit für eine sechs. Oder ich habe fünfzig Versuche nur gebraucht, dann liegt die Chance, eine sechs zu würfen, bei 60 Prozent. Also bezogen auf Ihr Beispiel bedeutet das dann, dass ich hunderttausend Mal fahren muss, um einmal zu verunfallen. Das wären bei 250 Arbeitstagen im Jahr fünfhundert Fahrten, hin und zurück. Und dann bedeutet das statistisch, dass ich zweihundert Jahre lang zur Arbeit fahren muss, hin und zurück fahren muss, um einmal zu verunfallen. Problem ist das Rentenalter von 67.
NÖßLER: Das heißt, das wird sich nie ausgehen.
Scherer: Ja.
NÖßLER: Wobei man natürlich, Herr Scherer, noch dazusagen muss: Sie müssten hunderttausend Mal fahren heißt ja nicht, dass es Sie dann in der hunderttausendsten Fahrt erwischt, sondern es hätte Sie an der hunderttausendsten Fahrt erwischen können. Es kann Sie auch, das ist dann die Frage der Wahrscheinlichkeit, schon bei der ersten Fahrt erwischen.
Scherer: Ganz genau, so wie ich auch bei dem ersten Versuch eine sechs würfeln kann, klar.
NÖßLER: Richtig. Also das sagt im Prinzip alles nichts. Und was ich spannend fand: Sie sagten jetzt noch mal, ich müsste Ihnen ja eigentlich erst mal aufschlüsseln, ob das jetzt Landstraße ist, Autobahn, welche Uhrzeit. Da sind wir wieder bei dem Thema Vortestwahrscheinlichkeit.
Scherer: Ja. Also wenn es zum Beispiel um das Risiko geht oder um die Wahrscheinlich geht, im Hamburger Stadtverkehr mit dem Fahrrad zu verunfallen, dann würde ich die Wahrscheinlichkeit deutlich höher ansetzen.
NÖßLER: Okay. So macht man im Übrigen auch Vortestwahrscheinlichkeit dann mal ein bisschen greifbar. Weil das Beispiel, das Sie jetzt gerade gebracht haben, vielleicht taugt das dann doch ganz gut mit dem Straßenverkehr, das macht es doch sehr greifbar, dass Risiken – in diesem konkreten Fall sind es Risiken –, immer einer Relation zugeordnet werden müssen. Und dann ist dieser abstrakte Begriff der Vortestwahrscheinlichkeit auf einmal sehr, sehr plausibel ja. Das sagt einem der Hausverstand, dass das so ist.
Scherer: Ja.
NÖßLER: Herr Scherer, wir wollen über Risikokommunikation reden. Wir wollen uns noch mit krasseren Zahlen gleich beschäftigen und wollen versuchen, dass wir auch die Hörerinnen und Hörer damit bekommen in der Hoffnung, dass sie da auch etwas für ihre Praxis mitnehmen können, für das Gespräch mit ihren Patientinnen und Patienten. Sie haben in dem Vorgespräch, wir tauschen uns immer aus, so viel kann man hier mal verraten, im Vorfeld natürlich, worüber wir sprechen wollen und machen uns Gedanken und brainstormen. Da haben Sie eine Frage formuliert, die ich eigentlich ganz – lustig, kann ich nicht sagen, nein –, die ich hochgradig interessant fand, nämlich: Wie viel Gewissheit brauche ich als Mensch, um glücklich durch mein Leben zu kommen? Haben Sie auf diese Frage auch eine Antwort?
Scherer: Naja, wer kann die Frage nach dem Glück schon gut beantworten? Da haben sich schon ganz andere dran versucht. Aber vielleicht kennen Sie die Langzeitstudie aus Harvard. Die haben, glaube ich, siebenhundert Menschen mehr als 75 Jahre lang beobachtet, jedenfalls so lange, wie man sie beobachten konnte, jedenfalls eine extrem lang laufende Studie. Dabei handelt es sich dann wirklich um eine der umfassendsten Studien, die je zu dem Thema Erwachsenwerden und Erwachsensein durchgeführt wurde. Das waren Menschen, die zu dem Eintritt in der Studie 16 Jahre alt waren. Und da wurden so drei Kernelemente des Glücklichseins gefunden dann: Erstens enge Beziehungen, die glücklich machen, zweitens, dass die Qualität und nicht die Quantität von Beziehungen entscheidend ist und drittens, dass eine stabile Ehe glücklich und gesund macht. Also wenn man jetzt diese Studie als Maßstab nimmt, dann geht es also eher um die Gewissheit, dass Beziehungen zu den mir nahestehenden Menschen stabil sind. So kann man es zusammenfassen, so würde das wahrscheinlich auch jeder unterschreiben, aber das ist ein bisschen weit weg von unserem Thema. Unser Thema wäre ja dann, dass wir auch Menschen beobachten, denen es überhaupt nichts ausmacht, in vielen Lebensbereichen Ungewissheiten zu tolerieren oder mit Ungewissheiten umzugehen. So viele Menschen spielen Lotto, immer noch. Gewinnchance eins zu 140 Millionen, jeden Samstag. Das macht den Menschen gar nichts aus, die Ungewissheit, ob es mich vielleicht eben mal bei dem Lottospielen trifft oder nicht.
NÖßLER: Aber spielt man nicht sogar Lotto wegen der Ungewissheit, in der Hoffnung, dass man die Ungewissheit vielleicht dann doch irgendwie brechen kann durch einen Zufall?
Scherer: Ja, das ist die Frage, was da die Motivation ist. Die Wahrscheinlichkeit, die ist ja so verschwindend gering, dass es für mich, wenn man es statistisch angeht, schon fast eine Gewissheit wäre, bei dem Lotto nicht zu gewinnen, jedenfalls nicht sechs Richtige plus Superzahl. Das wären dann diese eins zu 140 Millionen. Das ist ja eine unvorstellbar kleine Wahrscheinlichkeit eigentlich.
NÖßLER: Dann sind wir wieder bei dem Renteneintrittsalter: So oft kann man gar nicht Lotto spielen, bis man dann wirklich mal dran wäre.
Scherer: Ja.
NÖßLER: Jetzt haben wir mit diesem Thema Gewissheit, wenn man es, also vielleicht ein interessanter Vergleich mit Lotto, dass wir uns tatsächlich da auf Ungewissheiten einlassen. Aber jetzt wissen wir ja eben, gerade auch in der Medizin, dass sich ganze Industriezweige mit dem Herstellen von vermeintlichen Gewissheiten beschäftigen. Der Klassiker sind Horoskope in der Tageszeitung oder in irgendwelchen ominösen Fernsehprogrammen. Wahrsager, Telefonhotlines und dann in der Medizin heute der Klassiker, diese Selbsttests, die man bestellen kann, in der Apotheke machen kann. Ob das dann Vitaminspiegel sind, irgendwelche Unverträglichkeiten, die man eventuell hat, bis hin mittlerweile ja zu der Genomvollsequenzierung, die man um tausend Dollar kaufen kann, wo einem dann anhand genetischer Prädiktoren irgendwelche Erkrankungswahrscheinlichkeiten vorgerechnet werden. Was glauben Sie, woher kommt unsere Leidenschaft als Menschen, dass wir versuchen wollen, das alles in Gewissheiten zu pressen, bis auf Lotto vielleicht?
Scherer: Da könnte man fast mal bei Wikipedia nachschlagen. Da gibt es den Barnum-Effekt. Den gibt es natürlich nicht nur bei Wiki, sondern den gibt es auch in der psychologischen Literatur. Der Barnum-Effekt ist eben ein Begriff aus der Psychologie und bezeichnet die Neigung von Menschen, ganz unspezifische, allgemeingültige Aussagen über die eigene Person so zu interpretieren, dass sie als wahr oder als zutreffend empfunden werden. Es gibt auch den so genannten Forer-Effekt. Forer hat mal eine Studie gemacht, wo er mit Studierenden verschiedene Testungen gemacht hat und dann die Tests überhaupt nicht ausgewertet hat, sondern sämtlichen Teilnehmern irgendein angebliches Ergebnis des Tests mitgeteilt hat. Und das war so formuliert, dass das recht universell zutreffend generisch war. Und ja, das wurde dann durchgehend als richtig oder zutreffend bewertet.
NÖßLER: Horoskope.
Scherer: Horoskope funktionieren so, ganz genau. Oder Wahrsager Hotlines oder wie auch immer. Also dieser Konvergenzdrang und die Neigung, vage Formulierungen als wahr und richtig zu klassifizieren und sich damit vielleicht eine gewisse Sicherheit zu verschaffen oder einen beruhigenden Effekt.
NÖßLER: Beruhigender Effekt. Wenn ich wissen kann, was ist, dann bin ich halt nicht unwissend und gehe mit einer vermeintlichen Klarheit durch das Leben. Jetzt haben wir…
Scherer: Wobei man dann wieder die Brücke zu der Medizin mal schlagen muss, damit wir uns nicht zu sehr in der Alltagsphilosophie verlieren, Herr Nößler. Also in der Medizin wird von…
NÖßLER: Schade.
Scherer: (lacht) Wir können dann auch gerne mal so einen Alltagsphilosophie Podcast machen, aber es soll ja hier auch so ein bisschen um Medizin gehen. Und da muss man sagen, und das werden wahrscheinlich viele klinische Kolleginnen und Kollegen so bestätigen können: Es gibt unterschiedliche Typen von Patientinnen und Patienten. Die einen wollen alles haarklein wissen, die anderen eher nicht. Und das ist dann die einerseits alltägliche, aber dann andererseits auch wieder die kommunikative ärztliche Kunst, das genau herauszufinden: Wen habe ich da jetzt vor mir sitzen? Ist das jetzt einer von denen, die es genau wissen wollen oder einer von denen, die gerne in dem Ungefähren bleiben möchten?
NÖßLER: Was sind Sie für ein Typ? Lieber ein bisschen mehr Labor oder lieber nur das Nötige?
Scherer: Ich muss Ihnen ganz ehrlich sagen, dass ich noch nie in einer medizinischen Situation war, wo es bei mir um die Wurst ging. Und deshalb kann ich das überhaupt nicht antizipieren. Spontan würde ich sagen, ich hätte gerne eine sehr genaue, konkrete, exakte Aufklärung, kein Larifari, nichts drumrum. Kurz und schmerzlos beziehungsweise also so genau, wie möglich.
NÖßLER: Kann ja durchaus dann auch Teil sein, auch das kennt man ja, dass man, wenn es einfach psychologisch auch für einen Patienten, eine Patientin hilfreich ist, lieber einen Laborwert zu viel anzufordern, dass man das im Zweifel vielleicht einfach mal macht, um da auch ein Stück weit Beruhigung in das Gespräch rein zu bringen, wenn gleich man weiß: Dieser Laborwert hilft mir klinisch jetzt gar nicht weiter.
Scherer: Es gibt das therapeutische Labor. Es gibt das therapeutische EKG. Off Label Use diagnostischer Maßnahmen, das ist, glaube ich, jedem geläufig und hat eigentlich jeder ärztliche Kollegin schon mal gemacht.
NÖßLER: Ich kenne in der Tat auch Hausärzte, die nach jedem Booster irgendwie noch mal die Antikörper checken und das vielleicht auch einfach nur aus Spaß. Aber Sie haben mich gemahnt, Sie haben uns beide gemahnt, dass wir doch in das Medizinische kommen sollten. Sie haben den Bogen jetzt wunderbar da hingeschlagen. Nämlich tatsächlich, wir wollen uns mit einer relativ praxisrelevanten Thematik beschäftigen mit Blick auf das Thema Risiken, nämlich das Thema impfen. Wir sind nun in der Situation, das wissen wir alle, alle Hörerinnen, alle Hörer, dass es doch noch einige Menschen gibt, denen es vielleicht besser täte, wenn sie die COVID19 Schutzimpfung hätten. Und da sind ja nun doch nicht unerheblich viele Menschen dabei, die doch Zweifel haben, ob sie das sollten, ob sie das wollen. Und dann gibt es natürlich auch die absoluten Gegner, aber in der Regel sind es vielleicht erst mal auch Skeptiker. Und da hat uns eine Hausärztin geschrieben. Und zwar, ich zitiere das mal: „Die Beratung bei Fragen zu COVID und den Impfungen kostet viel Zeit und Kraft, zum einen, um selbst auf dem Laufenden zu bleiben, die Impfstoffentwicklungen, die Impfempfehlungen und ihre Änderungen zu verstehen und dann auch dem Patienten erklären zu können. Und natürlich zum anderen Arbeit mit den Händen. Ich vermute mal, das werden alle, die uns zuhören, irgendwie aus ihrem eigenen Erleben bestätigen können. Herr Scherer, was die Hausärztin da anspricht, ist ja auch eine gewisse Müdigkeit. Wenn man jetzt ein Jahr lang aufklärt und weiß, es geht jetzt immer noch weiter und man muss immer wieder die gleiche Skepsis aufgreifen und erklären, das kann natürlich müde machen. Wie berät man denn die wirklich Skeptischen, mit denen wir jetzt umgehen müssen, mal ganz grundsätzlich?
Scherer: Ja, ich merke jetzt gerade, dass ich immer noch in diesem Strudel der Alltagsweisheiten drin bin. Und wir müssen ja so durch das Leben gehen, dass wir für uns die psychische Hygiene so gut wie möglich hoch halten. Und es gibt ja genügend Textstellen in unterschiedlichen Werken mit der Botschaft: Finde dich mit dem ab, was nicht zu ändern ist und versuche, das zu ändern, was du ändern kannst. Dass das Virus da ist, daran können wir nichts machen. Aber man könnte und sollte bei der Aufklärung darauf hinweisen, dass die Impfung die Wahrscheinlichkeit eben senkt, zu erkranken. Das ist das Einzige, was ich tun kann, neben all den anderen Maßnahmen. Das kann ich ändern. Ich kann für mich die Wahrscheinlichkeit senken, schwer zu erkranken. Und deshalb müssen zwei Botschaften klar kommuniziert werden: Zum einen, dass die Corona Impfung wichtig ist und dass sie sicher ist. Und dazu gibt es ja genug Animationen, wie viel weniger Todesfälle in der Gruppe der Geimpften auftreten und so weiter. Das haben wir hier auch, glaube ich, mehr als einmal gemacht und mehr als einmal auch auf verschiedene Tafeln und Tabellen hingewiesen. Also, wie berät man solche Leute, das ist die Chance, für mich persönlich die Wahrscheinlichkeit zu senken, schwer zu erkranken?
NÖßLER: Nun gibt es natürlich dann eben dennoch die wirklich Skeptischen, die sagen: Ich glaube dir nicht. Ich glaube dir nicht, dass das wirklich funktioniert, dass das die Wahrscheinlichkeit senkt. Mein Immunsystem ist besser. Die Impfstoffe, das ist doch alles Chemie. Wir haben keine, jetzt kommt dieses geflügelte Wort, Langzeitstudien. Es könnte ja sein, dass nach zehn Jahren dann erst herauskommt, dass das eigentlich schlecht ist. Also da gibt es ja ganz, ganz viele Abers, vielleicht könnte man auch sagen Whataboutism so als Methode, immer wieder irgendwas in Frage zu stellen mit etwas Neuem. Wie kommt man denn da diesem Problem bei? Ich kann mir schon vorstellen, dass man dann irgendwann einfach echt müde ist in der Aufklärung.
Scherer: Ja, das haben wir mehr als einmal gehört: Das ist alles Chemie, ich vertraue lieber meinem eigenen Immunsystem. Da müssten wir eigentlich darauf hinweisen, dass niemand unverwundbar ist und dass die Arbeit des Immunsystems kein Kontinuum darstellt. Also das allerbeste Immunsystem hat seine Schwächen. Wenn ich einen schlechten Tag habe, das kennen wir schon aus viralen Infekten vor Corona, übermüdet bin, Stress habe und andere Verletzlichkeiten aufweise, dann kann ich noch so ein gutes Immunsystem haben, dann kommt eben eine Infektion manchmal etwas leichter durch. Also mein Immunsystem funktioniert nicht jeden Tag gleich gut, Punkt eins. Zu dem Stichwort alles Chemie, da muss man sagen: Das Immunsystem ist ein Paradebeispiel für ein lernendes System. Es gibt die spezifische und die unspezifische Immunabwehr. Die Unspezifische für das Grobe, sage ich mal, Schleimhautbarriere und so weiter. Und das spezifische Immunsystem wird durch die Impfung trainiert. Das sage ich den Patientinnen und Patienten, dass die Impfung im Grunde genommen eine natürliche Therapie ist, weil sie das Immunsystem zum Lernen zwingt und die spezifische Immunabwehr fit macht. Und dass es das gibt, das spezifische und das unspezifische Immunsystem, das ist Natur, das ist Evolution. Das hat mit Chemie nicht viel zu tun. Überzeugt dennoch den einen oder anderen nicht, aber Sie haben mich danach gefragt. Und so hat jeder, glaube ich, sein Narrativ, mit dem man durchkommt oder nicht durchkommt. Aber klar, es gibt diese Kasuistiken und es ist ja auch gut, wenn wir hier die eine oder andere mal besprechen können.
NÖßLER: Vielleicht dürfen wir an der Stelle noch verraten: Die Hausärztin, die uns das geschrieben hatte, so ihr Alltagsempfinden mal in so ein paar Zeilen zusammengefasst hat, schrieb dann an einer Stelle noch, ihr Rezept, auch für sich selbst, ist: Einfach immer wieder aufklären, den Leuten auch ihren Raum geben und sagen: Wenn du das nicht willst, dann ist das deine Entscheidung. Und sie schrieb dann wirklich ganz deutlich: Sie nutzt dann jeden neuen Patientenkontakt mit der Person, um es immer wieder anzubieten, aber eben nicht zu insistieren. Das hat sie so geschrieben. Das ist ja auch ein Weg.
Scherer: Und so funktioniert jede Art von Lebensstiländerung. So funktionieren Beratungen zu der Bewegungstherapie. So funktionieren diätetische Beratungen. So funktionieren Beratungen zu dem Rauchstopp oder zu der Nikotinentwöhnung, dass man die Menschen über einen längeren Zeitraum begleitet, dass man geduldig ist und immer wieder bereit ist, auf die einzelnen Bedenken einzugehen. Das funktioniert hier genauso. Würde ich Ihnen und der Kollegin völlig recht geben.
NÖßLER: Okay. Jetzt gibt es tatsächlich so eine – Kasuistik, sagten Sie gerade – eine Frage, die ich ganz plastisch fand. Die hat ein Hausarzt in dem allgemeinmedizinischen Listserver gestellt. Den kennen die hausärztlichen Hörerinnen und Hörer sicherlich. Und der hatte wohl jemanden zur Booster-Impfung bei sich oder einfach zur COVID-Impfung. Und der fragte den dann ganz direkt: „Na, Herr Doktor, wie hoch ist denn nun statistisch gesehen aktuell mein Risiko, an der Impfung zu versterben?“ Das ist nun eine sehr sachlich formulierte Frage, wahrscheinlich hat ihn das auch einfach nur interessiert. Und der wusste da in dem Moment keinen Rat. Herr Scherer, was antwortet man auf so eine Frage?
Scherer: Ich würde ihm wahrscheinlich die Telefonnummer von Denis Nößler geben.
NÖßLER: Oh Gott.
Scherer: Mit dem Hinweis: Herr Nößler rechnet Ihnen das bestimmt vor. Ich glaube, man kann da auch mit Vergleichen arbeiten. Wer kann schon dann in dem Moment das genau vorrechnen? Das muss vielleicht auch gar nicht sein, aber man kann mit Vergleichen arbeiten. Und wenn wir mal mit unserem Einstiegsszenario von heute anfangen, dann könnte man diesem Patienten sagen: Ihr Risiko, an einer Impfung zu versterben, ist deutlich geringer, als wenn ich zweihundert Jahre lang mit dem Auto zur Arbeit hin und zurück fahre. So kriegt man vielleicht ein Gefühl dafür, das zu greifen, was eigentlich nicht greifbar ist, weil das einfach unglaublich kleine Zahlen sind, verschwindend kleine Wahrscheinlichkeiten.
NÖßLER: Das werden wir jetzt gleich noch mal machen. Und zwar haben wir uns gesagt, Herr Scherer, diese eine konkrete Frage wollen wir mal heute versuchen, konkret zu beantworten im Rahmen dessen, was möglich ist, was die Datenlage hergibt. Und dann kann man diese siebenhundert Unfälle am Tag irgendwie noch mal in ein Verhältnis setzen, die Zahl der Verkehrstoten in das Verhältnis setzen. Das machen wir gleich mal. Aber, Herr Scherer, jetzt wieder die Frage an Sie: Was glauben Sie, wie hoch ist Ihr persönliches Risiko, nach einer COVID-Impfung zu versterben, bevor wir in die Details einsteigen?
Scherer: Ja, sicher um ein Vielfaches kleiner als bei jedem anderen Alltagsrisiko.
NÖßLER: Okay, gut. Ich mache mal etwas anderes. Ich weiß nicht, ob der Vergleich legitim ist. Ich will jetzt ja Ihr Alter hier nicht verraten. Das ist in Ihrer Hoheit. Aber zumindest nach Ihrer Altersgruppe kann ich Ihnen ein Sterberisiko nennen, und zwar anhand der Sterbetafel von dem statistischen Bundesamt. Und in Ihrer Altersgruppe ist das Sterberisiko bei 2,4 zu eintausend Personen, also 0,24 Prozent innerhalb eines Jahres. Und das ist wurscht, ob Sie vorher eine Impfung bekommen haben oder nicht. Schlicht, weil eben so viele Menschen jeden Tag sterben, das sind 950.000, Pi mal Daumen, im Jahr. Kann man mit so einem Vergleich die Menschen abholen?
Scherer: Oder man macht ihnen gerade Angst damit. Es scheint ja in meiner Altersgruppe deutlich gefährlicher zu sein, als ich dachte.
NÖßLER: Sie dachten, es sei geringer?
Scherer: Ja, hätte ich jetzt gedacht. 2,4 zu tausend binnen eines Jahres bei jemandem, der sich noch fühlt wie Hoppenstedt, also hätte ich jetzt nicht gedacht.
NÖßLER: Das wird natürlich noch krasser. Also ab 95 ist es dann bei 360 zu tausend, das ist normal. Aber dann wird es auch schon wieder plausibel, oder?
Scherer: Hm.
NÖßLER: Ja, gucken wir doch tatsächlich mal so wirklich in die Zahlen, die wir eigentlich kennen mit Blick auf die COVID19-Schutzimpfung. Und dann gibt es – das wissen wahrscheinlich die Hörerinnen und Hörer – von dem Paul Ehrlich Institut, das für die Sera zuständig ist, für die Impfstoffe, gibt es eben regelmäßige Sicherheitsberichte, speziell zu den COVID Vakzinen. Und da werden die Meldungen, die Zahlen zusammengetragen. Und da taucht jetzt, vielleicht, Herr Scherer, müssten wir das erst mal kurz ein bisschen erklären: Da taucht dann an einer Stelle der Begriff SMR auf. Das ist das standardisierte Mortalitätsrisiko. Vielleicht, damit wir wirklich alle abgeholt haben, können Sie das noch mal ganz kurz erklären, was das ist.
Scherer: Das liefert einen Zahlenwert, SMR, standardisiertes Mortalitätsrisiko, der entweder über eins ist oder unter eins. Solange er unter eins ist, dann handelt es sich um eine Protektion oder einen protektiven Effekt. Wenn der Wert über eins geht, dann macht die Impfung, es geht ja jetzt hier um die Impfung, eine Exzess Mortalität. Und das Ganze kriegt man aus einer Observed versus Expected Analyse. Das ist der Vergleich der erwarteten Inzidenz einer Erkrankung in der Zielpopulation und der gemeldeten Frequenz in einem bestimmten Zeitfenster. Man macht da also Vergleiche.
NÖßLER: Okay, Observed versus Expected. Also im Prinzip bleiben wir noch mal bei dem Risiko, zu sterben. Wenn ich jetzt sage, Menschen in einer Altersgruppe X bis Y, da sterben so und so viele Menschen per annum im Jahr und dann gibt es halt dieses Risiko 2,4 zu tausend beispielsweise in dieser einen Gruppe von Ihnen, die nicht näher benannt werden darf an dieser Stelle. Und dann kann man gucken, nämlich observe: Ist es drunter oder drüber? So stelle ich mir das vor.
Scherer: Ganz genau.
NÖßLER: Okay. Jetzt in diesem Sicherheitsbericht gibt es eine Wahnsinnstabelle, Herr Scherer. Wir haben uns vorgenommen, dass wir diese Tabelle versuchen, in Klang zu transformieren, wo es um das Risiko für letale Ereignisse gehen. Wollen wir es mal versuchen: Was kann man da sehen? (beide lachen) Sie ist nicht ganz leicht, diese Tabelle, oder?
Scherer: Also ich bin jetzt fast geneigt zu sagen, was es in den Spalten gibt und was es in den Zeilen gibt. Also es gibt vier unterschiedliche Impfstoffe: Comirnaty, Spike vaxzevria und COVID19 Vakzin von Janssen. Und für jede einzelne dieser Vakzine sehe ich absolute Fälle und dann eben diese SMR, diese standardisierte Mortalitätsrate mit jeweiligem Konfidenzintervall. Und in den Zeilen stehen dann eben die entsprechenden Zahlen mit zunehmendem Abstand von der Impfung, für Tag eins, Tag zwei und so weiter, bis Tag 42. Und dasselbe dann noch mal für die Booster-Impfung. Und das, was man sieht, ist: Je weiter man sich von dem Impftag entfernt, desto niedriger die so genannte SMR. Das heißt, desto höher ist der protektive Effekt, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, zu sterben.
NÖßLER: Okay. Und ich greife jetzt einfach mal eine Zahl raus, mache ich jetzt einfach mal für Spaß, und gucke mir jetzt zum Beispiel bei Spikevax, das ist ja das, was im Moment sehr viel verimpft werden kann, weil es davon ein bisschen mehr gab. Bei der Booster-Impfung sieht man hier, dass bis dato dem Paul Ehrlich Institut zwei Todesfälle im Zusammenhang mit einer Spikevax Auffrischimpfung bekannt geworden sind. Das heißt betont, im Zusammenhang. Und dann ist das ja, glaube ich, kumulativ, Herr Scherer: Bis zu dem 42. Tag nach der Impfung bleibt es bei zwei. Und dann steht dahinter eine SMR von 0,05. Und selbst der Konfidenzintervall bleibt bei maximal 0,2. Und das heißt, die Aussage aus dieser Zahl, Herr Scherer, wenn ich das richtig verstehe, ist: In der Population der Geboosterten mit Spikevax sind in dem betrachteten Zeitraum von dem Paul Ehrlich Institut weniger Menschen gestorben, als man statistisch erwartet hätte.
Scherer: Wenn Sie auf die absoluten Zahlen gehen. Wenn Sie sich dann aber bei Tag eins die SMR anschauen und sehen, 2,28, das heißt eine Exzess-Mortalität bei zwei Todesfällen nach Booster-Impfungen, und dann dieses gigantische Konfidenzintervall, das von 0,28 bis 8,22 reicht, das heißt, von dem hoch protektiven Bereich in den Bereich der hohen Exzess-Mortalität, dann sieht man einfach: Wenn man mit so kleinen Zahlen zu tun hat, dann ist das unmöglich, verwertbare, allgemeingültige Aussagen zu machen.
NÖßLER: Also das heißt, das Konfidenzintervall, das so krass um die eins herum streut: Diese Zahl ist einfach nicht aussagekräftig.
Scherer: Die ist nicht aussagekräftig. Da kann man nicht viel mit anfangen.
NÖßLER: Aber ansonsten ist ja in der Tat interessant, also Sie haben es gesagt: Wenn man es hochkumuliert auf 42 Tage, 0,05 bei Spikevax geboostert oder 0,03 bei Comirnaty-Booster, das ist in der gesamten Population betrachtet, auch wenn es wahnsinnig kleine Zahlen sind, eindeutig eine klare Ansage, oder?
Scherer: Zumindest wird die Ansage dann klarer, wenn man sich die Konfidenzintervalle mal anschaut. Die sind dann natürlich bei 42 Tagen deutlich enger, die Vertrauensbereiche. Es handelt sich ja – für die, die jetzt nicht jeden Tag damit umgehen – um den Vertrauensbereich, in den 95 Prozent der erwarteten Zahlen liegen. Und je enger dieser Vertrauensbereich ist, desto vertrauenswürdiger ist dann auch das Effektmaß und desto vertrauenswürdiger ist dann auch die sehr niedrige SMR von 0,06. Also mit anderen Worten: Wenn es um den protektiven Effekt geht, haben wir relativ enge Vertrauensbereiche dann ab Tag 42 oder auch schon bei Tag dreißig und extrem große Vertrauensbereiche bei Tag eins, zwei bei der Booster-Impfung. Das ist vielleicht so eine kleine Moral aus der Geschichte dieser Tabelle. Ein bisschen hart für die, die die Tabelle nicht vor Augen haben, aber ich glaube, so ein bisschen etwas konnte man vielleicht jetzt daraus ziehen.
NÖßLER: Okay. Ist vielleicht auch, Sie sagen, ein bisschen hart. Aber das ist dann eben Statistik. Und wer mit Risiken und Chancen umgehen will und wir haben ja auch die Diskussionen da draußen, die stattfinden, auch medial sehr stark über angebliche Schäden, Schädlichkeit oder eben Frage zu dem Nutzen. Der muss dann am Ende auch in der Lage sein, diese Zahlen zu verstehen. Und deswegen war es vielleicht ganz hilfreich, dass Sie noch mal eingeordnet haben, warum bei Tag eins es so sehr umher schwankt und bei Tag 42 dann nicht mehr. Hat dann halt etwas mit dem N zu tun. Und das ist dann halt 42-fach größer.
Scherer: Wer noch mal genau nachgucken will: Das ist auf Seite zwölf. Ich glaube, Sie können nicht direkt die Tabelle zeigen auf Ihrer Website der Ärztezeitung, Herr Nößler, aber Sie können zu dem Bericht verlinken des Paul Ehrlich Instituts und dann ist es die Seite zwölf, Tabelle vier.
NÖßLER: Genau, also Hinweis Shownotes von Martin Scherer absolut korrekt. Da verlinken wir den rezenten Sicherheitsbericht und dann auf Seite zwölf, Tabelle Numero vier. Jetzt haben wir zumindest gesehen, Herr Scherer, dass es eine Rate gibt, mit der man das betrachten kann, eine Ratio. Die schlägt mal nach links aus, mal nach rechts. In dieser Tabelle, die wir verlinkt haben, schlägt sie eigentlich fast immer nach links aus. Und wir haben herausgefunden, dass man das große N, also auch die Ereignisrate, die Gesamtheit betrachten muss und die dann etwas aussagt über diesen Vertrauensbereich. Jetzt kann natürlich sofort in der Praxis die Frage aufkommen: Ja, wie viele Todesfälle gab es denn überhaupt in dem Zusammenhang mit der COVID19-Schutzimpfung? Und wie hoch ist denn das Risiko auf die Impfung betrachtet? Also nicht auf die erwartbare Zahl von Sterbefällen, die es generell gibt. Herr Scherer, was wissen wir dazu?
Scherer: Also auch da muss man wieder sagen: Es braucht unglaublich viele Ereignisse, um eine relativ kleine Zahl von unerwünschten Ereignissen hervorzurufen. Also die Todesfälle quer über alle Impfungen waren 1919.
NÖßLER: Das klingt erst mal nach viel.
Scherer: Bis zu dem 30.11.2021. Klingt viel, ist ein mittelgroßes Dorf. Jetzt muss man sich die Gesamtzahl der Impfungen anschauen, die bis dahin betrachtet wurden. Das waren 123.347.849. Und jetzt wäre es dann wiederum an Ihnen, die Rate auszurechnen beziehungsweise diese Ereigniszahl von neunzehnhundert Todesfällen auf diese riesige Zahl von Gesamtimpfungen zu beziehen.
NÖßLER: I will do my very best. Ich habe zum Glück bei dem Podcast immer einen Taschenrechner daneben liegen und der kann auch mit Nachkommastellen umgehen. Also es sind, Herr Scherer, nach dieser Rechnung, 1919 Fälle von 123 Millionen: Es sind 0,0015 Prozent aller Impfungen gegen COVID19.
Scherer: Jetzt bin ich natürlich versucht, Sie darauf anzusprechen, dass Sie für meine Altersgruppe das Baseline-Risiko ausgerechnet haben. Das liegt bei 2,4 auf tausend in einem Jahr, richtig?
NÖßLER: Richtig.
Scherer: Also, wenn man das in das Verhältnis setzt, kommt was raus?
NÖßLER: Also das Baseline-Risiko ist 0,24 Prozent, also wir reden hier – wir sind jetzt gerade in dem Bereich absoluter Risiken –, ist 0,24 Prozent. Und das Risiko nach einer COVID19-Impfung, nach diesen Zahlen zu versterben, wobei eben noch kein Zusammenhang genannt ist, beträgt 0,0015 Prozent. Jetzt sind wir bei der absoluten Risikoreduktion, nämlich zu der Baseline. Und das sind 0,238 Prozent. Und das ist absolut. Jetzt müssten wir es noch relativ ausrechnen.
Scherer: Genau, so ist es, jedenfalls ein verschwindend geringes Risiko.
NÖßLER: Herr Scherer, ich weiß, dass Sie als DEGAM Präsident die relative Risikoreduktion normalerweise blöd finden, aber in dem Fall ist sie 99,35 Prozent.
Scherer: So ist es. Aber wie hoch ist jetzt die Prozentzahl derjenigen Zuhörer, die wir in den letzten fünf Minuten verloren haben?
NÖßLER: Ich hoffe, null.
Scherer: Gut. Also die Quintessenz ist, wir sind in dem Thema Risikokommunikation. Wir sind in dem Thema das tägliche Mund fusselig reden mit Patientinnen und Patienten, viel Geduld haben, immer wieder auf die Fragen, vielleicht auch auf die irrationalen Bedenken einzugehen und dann konfrontiert zu werden mit Einzelfällen, die vielleicht medial aufgeblasen werden, die aber vielleicht auch einfach Ängste triggern. Die Frage ist dann einfach: Wen habe ich vor mir sitzen? Wie konkret will er es haben? Und wie schaffe ich es, der Patientin und dem Patienten die Angst dadurch zu nehmen, indem ich einfach deutlich mache: Es ist ein verschwindend geringes Risiko, das ich mir durch eine Impfung Schaden zufüge, ein Vielfaches geringer als das, was mir sonst im Alltag so an Risiken begegnet.
NÖßLER: Und eigentlich müsste man das – dafür ist ein Podcast, Herr Scherer, jetzt nicht das richtige Format –, aber eigentlich könnte man so mit Icons arbeiten, oder?
Scherer: Ja, das wäre ein Weg. Also die Smiley-Tafeln, arriba, BZGA, Stiftung Gesundheitswissen. Also es gibt viele solcher Tafeln. Wir haben von Seiten der DEGAM auch mal eine rausgegeben auf Impuls des niedersächsischen Hausärzteverbands: „Mit Astra starten oder warten?“ Da haben wir auch mal so ein paar bildhafte Sachen gegenübergestellt, Alltagsrisiken versus Impfrisiken versus COVID-bezogenen Risiken in unterschiedlichen Altersgruppen. Wir können uns hier sehr in diesen Zahlenspielen ergehen. Entscheidend ist: Wie viele Zahlen verträgt der einzelne Patient? Wie möchte es Herr Oberstudienrat und Frau Oberstudienrätin erklärt bekommen? Wie möchte es Ottonormalverbraucherin erklärt bekommen? Aber das ist das, was die tägliche Arbeit ist, wo, glaube ich, die allermeisten Kolleginnen und Kollegen sehr gute Narrative haben und sehr gute Erklärmodelle. Das Entscheidende ist, glaube ich, dass man dann auch eine gewisse Frustrationstoleranz hat und damit leben können muss, dass man jetzt nicht aus jeder Konsultation mit einem guten Gefühl rausgehen kann und sagen kann: Ja, Moment, also das war jetzt eine helle Lampe, die da aufgeleuchtet ist. Es ist dann wirklich die stetige Begleitung und die Folgekonsultation, so wie Sie es anfangs auch angesprochen haben und so wie das auch die eine Kollegin aus dem Listserver gesagt hat.
NÖßLER: Genau. Und das war am Ende auch eben ihr Tipp, dass sie sagte: Einfach mit Beharrlichkeit und Ruhe da drangehen.
Scherer: Ganz genau.
NÖßLER: Das heißt, wir nehmen mit, Herr Scherer: Risikoaufklärung, Risikokommunikation ist eine nicht ganz unkomplexe Sache. Damit werden wir wahrscheinlich nur die Hörerinnen und Hörer in dem bestätigen, was sie eh wissen. Und ganz sicher aber muss man das individuell machen. Was man aber ganz sicher noch mitnehmen kann, nämlich vielleicht eine Zahl, die durchaus hilfreich sein kann, dass das Risiko, an einer Impfung zu sterben aus den Daten, die wir eben besprochen haben, verschwindend gering ist.
Scherer: Das kann man sicherlich mitnehmen. Und vielleicht kann man ja noch ein paar andere Sachen aus dem Podcast mitnehmen: Dass wir in der Pandemie sehr mit der Lupe auf bestimmte Risiken geschaut haben, auf andere Risiken wiederum nicht geschaut haben. Sie haben mich am Anfang gefragt, wie hoch mein Risiko ist, im Straßenverkehr zu verunfallen. Ich habe Ihnen entgegengehalten: Fangen Sie doch mal an bei den Alltagsrisiken. Also damit geht es ja schon los, dass man überhaupt erst mal sich klar macht: Auf welche Risiken schaue ich überhaupt? Dann haben Sie das Gesetz der großen beziehungsweise der sehr kleinen Zahlen genannt. Und dann ist, glaube ich, noch eine Key-Message, eine Quintessenz, die man mitnehmen kann: Schaut euch die Konfidenzintervalle an und jeweils die entsprechende Bezugsgröße.
NÖßLER: Das Leben besteht aus Konfidenzintervallen. Das ist doch mal ein Schlusswort, Herr Scherer. Damit kann man doch auch mal aus so einem Evidenz Update herausgehen. Vielen Dank.
Scherer: „Schatz, es ist aus, du hast mein Konfidenzintervall verlassen“.
NÖßLER: Zum Beispiel. (beide lachen) Genau. Nein, aber ich finde eigentlich dieses Bild mit den Konfidenzintervallen, Herr Scherer, gar nicht so falsch, weil es schwankt einfach alles. Das Leben ist eine Ansammlung aus Unsicherheiten. Also das kann man doch an der Stelle vielleicht noch mal mitnehmen.
Scherer: Ja. Ich hoffe, dass es uns gelungen ist, einige von diesen Gesprächstipps hier so ein bisschen auf den Punkt zu bringen. Und mal sehen, vielleicht greifen wir das Thema noch mal auf.
NÖßLER: Vielleicht. Das ist ein Cliffhanger vielleicht für eine nächste Episode. Vielleicht an der Stelle noch mal ein Tipp für alle Hörerinnen und Hörer, bei denen wir uns natürlich bedanken, dass sie uns so auch geduldig zuhören, der Tipp für Hörerfragen. Höreranregungen: evidenzupdate@springer.com ist unser E-Mail Adresse. Vielleicht hat ja der eine oder die andere noch so einen Tipp, eine Anregung, wie sie oder er es macht. Herr Scherer, wir sind am Ende jedenfalls dieser Episode. Sie wissen, dass ich mich eigentlich sehr gerne wieder nach einem Cliffhanger erkundigen würde.
Scherer: Naja, ich könnte jetzt sagen: Ich stecke nicht drin, in Ihrer Haut. Aber dann würden Sie vielleicht auf die Idee kommen, dass es um ein dermatologisches Thema gehen könnte.
NÖßLER: Oh je.
Scherer: Mal sehen.
NÖßLER: Mal sehen. Okay. Also, Herr Scherer steckt nicht in meiner Haut. So weit, so klar. Schauen wir mal, was das mit Blick auf eine künftige, auf die künftige Episode bedeutet. Herr Scherer, von meiner Seite an dieser Stelle: Vielen, vielen Dank. Haben Sie eine gute Woche. Ich freue mich, wenn wir uns wieder hören, an gleicher Stelle und auf gleicher Welle.
Scherer: Danke. Gute Zeit Ihnen, bis bald.
NÖßLER: Tschüss.
Scherer: Tschüss.
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