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Intensive Blutdrucksenkung – lohnt sie sich vielleicht doch?
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Intensive Blutdrucksenkung – lohnt sie sich vielleicht doch?

Über die BPRULE-Metaanalyse – frisch vom ESC-Kongress

¡Hola, amigos! Wir melden uns an diesem Sonntag „aus“ Madrid, und zwar mit Hochdruck. Dort (im Messegelände IFEMA) tagt seit Freitag und noch bis Montag die europäische Kardiologie, dieses Jahr gemeinsam mit dem World Congress of Cardiology, denn die ESC, die European Society of Cardiology, wird am kommenden Dienstag 75 Jahre jung. ¡Feliz aniversario!

Wir sind natürlich nicht direkt vor Ort, aber wir begutachten aus sicherer Entfernung (Hamburg und Offenbach) die eine oder andere Neuigkeit aus Madrid. Und einen breiten klinischen Impact verspricht (den Autoren zufolge) eine Metaanalyse der BPRULE Study Group aus China. Die haben nach eigenem Bekunden erstmals die Nutzen-Schaden-Bilanz einer intensiven vs. Standard-Blutdrucksenkung untersucht – anhand von nicht weniger als 80.000 individuellen Patientendaten.

Und diese Arbeit nehmen wir in dieser Ad-hoc-Episode unter die Lupe.

第一號劇透:Der Nutzen überwiege den Schaden, sagen die Autoren.
Spoiler número dos: Wir sehen das etwas anders. Aber der Reihe nach …

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Erst Nullsummenspiel, dann die Gewichtung

Die Studie bündelt Individualdaten aus sechs großen randomisierten kontrollierten Studien mit insgesamt mehr als 80.000 Patientinnen und Patienten (eine Auflistung der Studien gibt es unten). Das Ergebnis klingt zunächst unspektakulär: Durch eine intensivere Senkung des Blutdrucks ließ sich die Zahl kardiovaskulärer Ereignisse (Herzinfarkte, Schlaganfälle, Herzinsuffizienz, kardiovaskulärer Tod) um 1,7 Prozent absolut reduzieren.

Gleichzeitig stiegen aber die therapiebedingten Nebenwirkungen (Hypotonien, Synkopen oder Nierenfunktionsstörungen) um absolut 1,8 Prozent an.

Kurzer Einschub zur Number needed to treat und Number needed to harm:

\(NNT=58= \frac{1}{1,7}\times100 \newline\)
\(NNH=55= \frac{1}{1,8}\times100\)

Scherer: „Numerisch ist das fast ein Nullsummenspiel.“ Trotzdem sehen die Autorinnen und Autoren einen klaren Nettonutzen, weil sie die verhüteten Herz-Kreislauf-Ereignisse dreimal so stark gewichten wie die Nebenwirkungen. Scherer: „Das ist interessant.“

Nur: Bildet diese Gewichtung die Realität der Patientinnen und Patienten tatsächlich ab? Die Gruppe zitiert eine Patientenpräferenzumfrage, die ist allerdings aus den USA, unter rund 200 Versicherten der Kaiser Permanente erhoben worden, und im Median waren die Befragten 74,5 [60–97] Jahre alt. Danach ist den Befragten in der Tat die Verhinderung von Schlaganfällen am wichtigsten. Aber die Vermeidung von Dialyse oder ESRD bspw. ist ihnen ebenso wichtig:

Fig. 2
Patientenpräferenzumfrage aus Aschmann et al. 2019

Die Autoren schließen mit ihrer einheitlichen Gewichtung ×3 faktisch individuelle Patientenpräferenzen aus oder scheren sie über einen Kamm, um zu einem Nettonutzen, einer positiven Nutzen-Schaden-Bilanz zu gelangen. Honi soit qui mal y pense?

Immerhin: In ihrer Arbeit dröselt die BPRULE Study Group die kombinierten Endpunkte so weit wie möglich auf. Nicht überraschend zeigt sich, dass der Nutzen maßgeblich durch die Reduktion von Schlaganfällen getrieben wird, bei Infarkten oder Herzinsuffizienz die NNT hingegen viel höher ausfällt.

Netto-Benefit-Analyse (Abb. 3 aus Guo et al., Hervorhebungen von uns) einer intensiven vs. Standard-Blutdruckmanagement: Major CV Events sind Herzinfarkt, Schlaganfall, Herzinsuffizienz und kardiovaskulärer Tod. Zu Harm zählen Hypotonie, Synkope, sturzbedingte Verletzungen, Arrhythmien, Angioödem sowie renale unerwünschte Ereignisse (akutes Nierenversagen, Niereninsuffizienz, terminale Niereninsuffizienz oder Dialyse, Reduktion der eGFR um ≥50 % bei CKD oder Reduktion der eGFR um ≥30 % auf <60 mL/min pro 1,73 m² ohne CKD. NNT und NNH basieren auf medianem Follow-up von 3,2 Jahren (IQR 3,0–3,5).

Eine andere relevante klinische Botschaft aus der Arbeit: Bei einem Zielwert von <130 mmHg fällt die Bilanz zwischen Nutzen und Schaden deutlich besser aus als beim Zielwert von <120 mmHg. Aber die großen Einschränkungen kommen noch.

Population groß aber kaum übertragbar

Denn wichtig ist ein Blick auf die Studienpopulation: 82,6 Prozent der untersuchten Personen stammen aus Asien. Hypertonie führt dort bspw. häufiger zu Schlaganfällen, während bei uns eher Myokardinfarkte dominieren. Hinzu kommen Unterschiede in der Salzsensitivität und im Ansprechen auf Antihypertensiva.

Und tatsächlich findet sich um Supplement der der Publikation auf Seite 31 eine Phänotypisierung der Nettonutzen-Berechnungen. Und danach geht bei sogenannten „Weißen“ (gemeint sind hier nordamerikanische Menschen mit heller Haut und meist europäischen Vorfahren [aus ACCORD-BP und SPRINT]) der Nettonutzen rasch nach unten und ist mit Fokus auf renale Nebenwirkungen teils sogar negativ.

Phänotypisierung des Nettonutzens einer intensiven Blutdruckkontrolle bei Patientengruppen mit unterschiedlichen Merkmalen (aus Suppl.-Abbildung 19, Seite 31).

Heißt: Die Übertragbarkeit der Studienaussagen auf Europäer ist eingeschränkt.

Ein weiteres Problem ist die Dauer der mittleren Follow-ups. Mit median 3,2 Jahren bleibt die Beobachtungszeit aus den sechs Studien naturgemäß begrenzt. Nur: „Kardiovaskuläre Prävention ist eine lebenslange Aufgabe“, erinnert Martin Scherer.

Hinzu kommt in der Metaanalyse außerdem, dass die Gruppe die Endpunkte harmonisieren musste, also die teils unterschiedlichen Definitionen nachträglich angeglichen hat. Das ist war plausibel und notwenig, hat aber auch etwas von (Nößler, etwas ironisch): „Ich mach mir die Welt, wie sie mir gefällt.“ Jedenfalls ersetzt diese Arbeit keine prospektive Untersuchung.

Ja, was denn nun?

Bleiben wir differenziert: Eine intensive Blutdrucksenkung kann in bestimmten Gruppen sinnvoll sein, etwa bei Menschen mit Diabetes. Doch die Risiken – Stürze, Synkopen, Nierenprobleme – müssen ebenso ernst genommen werden.

Für die breite Versorgung in Deutschland bleibt der pragmatische Cut-off der NVL Hypertonie (140/90 mmHg, Office-BP) aktuell die sicherste Orientierung. Und, sagt Scherer: „Wir dürfen nicht der Illusion verfallen, Prävention sei eine Frage von Zielzahlen. Prävention ist komplexer – und sie ist immer individuell.“ Die nüchterne Zahlenbilanz lässt sich nicht ohne Weiteres in klinische Entscheidungen übersetzen, sondern verlangt nach einer individuellen, patientenzentrierten Abwägung.

Die Metaanalyse in Kürze

Die Methode

  • Design: IPD-Metaanalyse von 6 RCTs
    (ACCORD BP, SPRINT, ESPRIT, BPROAD, STEP, CRHCP).

  • Teilnehmer:innen: 80.220, medianes Alter 64, 82,6 % asiatisch.

  • Vergleich: Intensive Kontrolle (<120 oder <130 mmHg) vs. Standard.

  • Primäre Endpunkte:

    • Nutzen: Myokardinfarkt, Schlaganfall, Herzinsuffizienz, kardiovaskulärer Tod als Komposit „major cardiovascular outcomes“.

    • Schaden: Hypotonie, Synkope, Sturz, Arrhythmie, Nierenereignisse.

  • Follow-up: Median 3,2 Jahre.

Die Ergebnisse

  • ARR bei kardiovaskulären Ereignissen: –1,73 % (NNT 58).

  • ARR bei Nebenwirkungen: +1,82 % (NNH 55).

  • Nettoeffekt nach Gewichtung: positiv, da 1 Benefit = 3,1 Harms.

  • Vor allem Schlaganfälle wurden verhindert; keine Reduktion der Gesamtmortalität.

  • <130 mmHg zeigte günstigere Bilanz als <120 mmHg.

Die Caveats

  1. Population Bias: 82,6 % Asien → Übertragbarkeit auf Europa o.a. fraglich.

  2. Selektionsbias: wenig multimorbide, adipöse, polymedizierte Patient:innen → Nutzen dadurch überschätzt?

  3. Endpunkt-Harmonisierung: interpretative Eingriffe (z. B. Ausschluss/Ergänzung bestimmter Endpunkte).

  4. Gewichtungen: beruhen auf US-Patientenpräferenzen + Expertenpanel, nicht aber auf europäischen oder asiatischen Patient:innen.

  5. Kurzfristigkeit: 3,2 Jahre Follow-up – zu kurz für Langzeitfolgen (z. B. chronische Niereninsuffizienz).

  6. Cultural Bias: Nutzen-Schaden-Bewertung möglicherweise kulturell geprägt, „methodisch fragwürdig“, wenn man US-Gewichtungen auf asiatische Daten überträgt und für Europa interpretiert.

  7. Kein Effekt auf Gesamtmortalität, Haupttreiber war Schlaganfallreduktion.

Literatur

  1. Guo X, Sun G, Xu Y, et al. Benefit–harm trade-offs of intensive blood pressure control versus standard blood pressure control on cardiovascular and renal outcomes: an individual participant data analysis of randomised controlled trials. The Lancet Published Online First: 31 August 2025. doi: https://doi.org/10.1016/s0140-6736(25)01391-1

  2. Chenot J-F, Nößler D, Scherer M. Ein Sprint macht noch keine besseren Blutdruckwerte. EvidenzUpdate-Podcast. 2021. https://www.evidenzupdate.de/p/ein-sprint-macht-noch-keine-besseren-8b8 (accessed 30 Aug 2025).

  3. ACCORD Study Group, Cushman WC, Evans GW, et al. Effects of Intensive Blood-Pressure Control in Type 2 Diabetes Mellitus. N Engl J Med 2010;362(17):1575–85. doi: https://doi.org/10.1056/nejmoa1001286

  4. SPRINT Research Group, Wright JT, Williamson JD, et al. A Randomized Trial of Intensive versus Standard Blood-Pressure Control. New Engl J Medicine 2015;373(22):2103–16. doi: https://doi.org/10.1056/nejmoa1511939

  5. Liu J, Li Y, Ge J, et al. Lowering systolic blood pressure to less than 120 mm Hg versus less than 140 mm Hg in patients with high cardiovascular risk with and without diabetes or previous stroke: an open-label, blinded-outcome, randomised trial. Lancet 2024;404(10449):245–55. doi: https://doi.org/10.1016/s0140-6736(24)01028-6

  6. Bi Y, Li M, Liu Y, et al. Intensive Blood-Pressure Control in Patients with Type 2 Diabetes. N Engl J Med 2025;392(12):1155–67. doi: https://doi.org/10.1056/nejmoa2412006

  7. Zhang W, Zhang S, Deng Y, et al. Trial of Intensive Blood-Pressure Control in Older Patients with Hypertension. N Engl J Med 2021;385(14):1268–79. doi: https://doi.org/10.1056/nejmoa2111437

  8. He J, Ouyang N, Guo X, et al. Effectiveness of a non-physician community health-care provider-led intensive blood pressure intervention versus usual care on cardiovascular disease (CRHCP): an open-label, blinded-endpoint, cluster-randomised trial. Lancet 2023;401(10380):928–38. doi: https://doi.org/10.1016/s0140-6736(22)02603-4

  9. Aschmann HE, Puhan MA, Robbins CW, et al. Outcome preferences of older people with multiple chronic conditions and hypertension: a cross-sectional survey using best-worst scaling. Heal Qual Life Outcomes 2019;17(1):186. doi: https://doi.org/10.1186/s12955-019-1250-6

  10. Aschmann HE, Boyd CM, Robbins CW, et al. Balance of benefits and harms of different blood pressure targets in people with multiple chronic conditions: a quantitative benefit-harm assessment. BMJ Open 2019;9(8):e028438. doi: https://doi.org/10.1136/bmjopen-2018-028438

  11. Su D, Yang H, Chen Z, et al. Ethnicity-specific blood pressure thresholds based on cardiovascular and renal complications: a prospective study in the UK Biobank. BMC Med 2024;22(1):54. doi: https://doi.org/10.1186/s12916-024-03259-5

  12. Loo G, Puar T, Foo R, et al. Unique characteristics of Asians with hypertension: what is known and what can be done? J Hypertens 2024;42(9):1482–9. doi: https://doi.org/10.1097/hjh.0000000000003706

  13. Neuhauser H, Kuhnert R, Born S. 12-Monats-Prävalenz von Bluthochdruck in Deutschland. Journal of Health Monitoring 2017;2(1):57–63. doi: https://doi.org/10.17886/rki-gbe-2017-007

  14. Bundesärztekammer (BÄK), Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV), Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF). Nationale VersorgungsLeitlinie Hypertonie, Version 1.0. AWMF-Register-Nr nvl-009 Published Online First: 29 June 2023. doi: https://doi.org/10.6101/azq/000502

  15. McEvoy JW, McCarthy CP, Bruno RM, et al. 2024 ESC Guidelines for the management of elevated blood pressure and hypertension. Eur Hear J 2024;45(38):3912–4018. doi: https://doi.org/10.1093/eurheartj/ehae178

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