Die Bundespolitik sucht nach Wegen aus der Pandemie, mindestens jedoch der Omikron-Welle. Nach der Corona-Impfpflicht für Mitarbeiter in Gesundheitseinrichtungen könnte eine allgemeine Impfpflicht kommen. Der Ausgang der Debatte ist allerdings offen, mindestens drei verschiedene Linien werden im Parlament diskutiert. Die Befürworter argumentieren mit Solidarität, dem Schutz der am stärksten gefährdeten Menschen oder dem Schutz des Gesundheitssystems. Nur reichen solche Erwartungen und Aussichten, um eine Schutzimpfung gegen COVID-19 gesetzlich verpflichtend vorzuschreiben?
In dieser Episode vom „EvidenzUpdate“-Podcast sprechen Dagmar Lühmann vom Deutschen Netzwerk Evidenzbasierte Medizin und DEGAM-Präsident Martin Scherer darüber, wie sich abwägen ließe, ob eine Impfpflicht ein geeignetes Instrument gegen SARS-CoV-2 ist. Anhand von ein paar Kernfragen könnten Parlamentarier eine echte Technikfolgenabschätzung, ein Health Technology Assessment (HTA) vornehmen und müssten bei ihrer Entscheidung nicht ausschließlich auf Vermutungen vertrauen.
Literatur
Hirt J, Rasadurai A, Briel M, et al. Clinical trial research on COVID-19 in Germany – a systematic analysis. F1000Research 2021;10:913. doi: https://doi.org/10.12688/f1000research.55541.1
Krones T. Stellungnahme. Das Netzwerk Evidenzbasierte Medizin fordert die Bundesregierung und beteiligte Akteure auf zu einem evidenzbasierten Handeln und transparenten Entscheidungen für oder gegen eine SARS-CoV-2 Impfpflicht. Deutsches Netzwerk Evidenzbasierte Medizin 2022. https://www.ebm-netzwerk.de/de/veroeffentlichungen/pdf/stn-20220124-impfpflicht.pdf (accessed 3 Feb 2022).
Krones T. Stellungnahme. Das Netzwerk Evidenzbasierte Medizin fordert die Bundesregierung und beteiligte Akteure auf, Zweck und Ziel einer SARS-CoV-2 Impfpflicht klar zu benennen. Deutsches Netzwerk Evidenzbasierte Medizin 2022. https://www.ebm-netzwerk.de/de/veroeffentlichungen/pdf/stn-20220201-impfpflicht.pdf (accessed 3 Feb 2022).
Transkript
Nößler: Die Impfung ist der Weg aus der Pandemie – so werben wir seit über einem Jahr für den Pieks. Und jetzt diskutieren wir über eine Pflicht, um den Weg aus der Pandemie zum Erfolg zu machen. Doch mit welchen Begründungen eigentlich? Was ist die Rationale dahinter? Und könnte eine Impfpflicht wegen Omikron nicht ohnehin obsolet werden? Und falls nicht, was wäre denn mit so einer Pflicht überhaupt gemeint, wie ließ sie sich umsetzen? Damit herzlich willkommen Episode vom EvidenzUpdate-Podcast. Auch heute wieder in einer Doppelbesetzung. Wir, das sind ...
Scherer: Martin Scherer.
Nößler: Präsident der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin der DEGAM und Direktor des Instituts und Poliklinik für Allgemeinmedizin am UKE in Hamburg. Dort grüße ich Sie, Herr Scherer! Hallo!
Scherer: Hallo Herr Nößler!
Nößler: Und heute ist bei uns dabei ...
Lühmann: Dagmar Lühmann.
Nößler: Erste stellvertretende Vorsitzende des Deutschen Netzwerks Evidenzbasierte Medizin. Und sie ist oberärztliche Koordinatorin Forschung am Institut und Poliklinik für Allgemeinmedizin am UKE. Hallo, Frau Lühmann! Schön, dass Sie heute dabei sind.
Lühmann: Guten Morgen!
Nößler: Und hier am Mikrofon ist Denis Nößler, Chefredakteur der Ärzte Zeitung aus dem Hause Springer Medizin. Jetzt haben die Hörerinnen und Hörer schon gehört, da gibt es eine Verbindung zwischen Frau Lühmann und Herrn Scherer. Was der eine oder die andere wahrscheinlich eh weiß. Vielleicht sollten wir diesen, in Anführungszeichen, Interessenkonflikt erst einmal erklären. Frau Lühmann, wie sind Ihre Verbindungen zu Herrn Scherer?
Lühmann: Wir blicken da auf eine langjährige Zusammenarbeit zurück, die begonnen hat schon im Institut für Sozialmedizin an der Universität Lübeck. Und wir haben damals schon festgestellt, dass wir gemeinsame wissenschaftliche Interessen haben, nämlich im Bereich Evidenzbasierte Medizin. Und deswegen haben wir unsere Zusammenarbeit bis zu dem heutigen Tag fortgeführt.
Scherer: Und in Hamburg arbeiten wir natürlich auch eng zusammen. Nur durch einen Gang sind unsere Büros voneinander getrennt. Und auch die zwei Gesellschaften, die Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin und das Netzwerk Evidenzbasierte Medizin sind eng miteinander verbunden. Wir haben eine gemeinsame Geschäftsstelle in der Schuhmannstraße in Berlin und – wie man vielleicht dann auch in diesem Podcast abermals merken wird – eine ziemlich ähnliche Denke.
Nößler: Und übrigens ganz in der Nachbarschaft vom Hauptstadtbüro der Ärzte Zeitung in der Schuhmannstraße. Aber das hier nur so als Nebenbemerkung. Ich will Ihnen beiden einmal ein Zitat vorlesen. Vielleicht erinnern Sie sich ja noch daran, woher das stammt, wann das war. Gucken wir mal. Also das Zitat geht so: „Gesundheitspolitik kann aus meiner Sicht nur dann erfolgreich, wenn sie sich in der Wissenschaft verankert findet, in der evidenzbasierten Medizin“. Zitat Ende. Herr Scherer, haben Sie eine Idee, woher das Zitat stammt? Von wann das ist?
Scherer: Also erst mal ist es, glaube ich, von mir. Und dann habe ich das, glaube ich, schon im Herbst 2020 gesagt.
Nößler: Das kann durchaus sein, das will ich gar nicht bestreiten. Frau Lühmann, wollen Sie noch einen Tipp abgeben?
Scherer: Ja. Ich glaube, das war Karl Lauterbach, nachdem er zum Gesundheitsminister benannt wurde vor nicht allzu langer Zeit.
Nößler: Also, damit haben Sie beide wahrscheinlich jetzt einen Punkt gemacht. Frau Lühmann hat natürlich recht. Dieser Satz 1:1, den hat Karl Lauterbacht am 8. Dezember gesagt. Das war der Tag der Amtsübergabe von Jens Spahn. Und tatsächlich gab es eine EvidenzUpdate-Episode, das war am 22.10.2020, Herr Scherer, da haben wir gesprochen über: Besser evidenzbasiert regieren statt mit Lockdown zu drohen. Und insofern kann es durchaus sein, dass Herr Lauterbach sich als Fan des EvidenzUpdate-Postcast geoutet hat. Wobei man natürlich ernstlich weiß, er ist ja ein Freund der evidenzbasierten Medizin. Ich meine, Frau Lühmann, war oder ist er nicht sogar auch Mitglied im Netzwerk?
Lühmann: Er war sogar Gründungsmitglied des Netzwerks für Evidenzbasierte Medizin. Hat die Tätigkeit aber dann irgendwann verlassen.
Nößler: Man muss natürlich dann auch beides irgendwie unter einen Hut bringen. Der Sager hat ja einen Grund, warum ich den eingeflochten habe. Die Frage, die sich nämlich im Moment durchaus stellt, wie Sie beide das einschätzen, ob wir im Moment Gesundheits- und Pandemiepolitik machen, die tatsächlich evidenzbasiert in Ihren Augen ist. Herr Scherer, wie schätzen Sie das ein?
Scherer: Sie ist so evidenzbasiert wie sie sein kann. Sie braucht eine Datengrundlage, die wir nicht haben. Wenn wir in andere Länder gucken, in Dänemark zum Beispiel, da können weitreichende Entscheidungen getroffen werden, basierend auf einer Datengrundlage, die besser ist als bei uns. Viele Dinge wissen wir im Augenblick gar nicht, haben es mit gewichtigen Themen zu tun, können aber viele Fragen zum Beispiel um die Impfpflicht gar nicht richtig beantworten, weil uns eben diese Datengrundlage fehlt. Das heißt, pandemiebeschreibende Fragen, die wir zu beantworten haben, dann die Effekte, auf die wir noch zu sprechen kommen. Und last but not least, wie groß ist die Restnaivität, die immunologische Restnaivität der Bevölkerung. Das sind alles Dinge, die man eigentlich wissen müsste. Und das macht es schwer. Auch die Evidenzbasierung braucht immer eine gute Baseline, eine gute Ausgangssituationsbeschreibung, epidemiologische und Versorgungsforschung. Da fängt es ja schon an.
Nößler: Restnaivität. Also im Prinzip die Fragestellung, die Sie da jetzt schon angesprochen haben – da kommen wir gleich noch mal im Detail zu – ist, wie hoch ist eigentlich der populationsbezogene Serostatus. Das ist die Frage die aufwerfen.
Scherer: Ganz genau. Wir reden die ganze Zeit über Impflücken. Was wir aber eigentlich wissen müssten, ist, wie groß ist die Immunitätslücke in der Bevölkerung.
Nößler: Da kann man dann jetzt tatsächlich den Würfel auspacken. Es gibt ja durchaus so Seroprävalenzstudien, vom RKI unter anderem, in verschiedenen Regionen. Und da kann man dann auch durchaus sehen, das war in anderen Wellen, das war noch vor Delta, dass man teilweise Faktor 4 auf einmal findet, bei Jüngeren sogar bis zu Faktor 8. Können wir uns gleich mal nähern. Wir wollen jetzt über die Frage Evidenz beim Thema Impfflicht sprechen. Jetzt wissen wir, es gibt eine Spezielle, die ist längst beschlossen, im Moment reden wir eher über die Allgemeine. Und jetzt haben Sie schon gesagt: Naja, wir haben so riesige Datenlücken, dann können wir ja faktisch gar nicht, Herr Scherer, mit Blick auf die Idee einer Impfpflicht, mit Evidenz hantieren, sondern wir bewegen uns die ganze Zeit im Glaskugelmodus. Nichts anderes kann die Politik im Moment doch tun.
Scherer: Es ist eine Art von Blindflug. Und deshalb sind die politisch Tätigen da auch überhaupt nicht zu beneiden. Das kann man gar nicht oft genug sagen. Denn das, was die gegeneinander abwägen müssen oder im Augenblick gegeneinander abwägen, Nutzen und Schaden einer Impfpflicht, das ist nur schwer möglich, weil viele Fragen, die auch richtigerweise in der aktuellen Stellungnahme des Netzwerks Evidenzbasierte Medizin aufgeworfen wurden, sind aktuell eigentlich nicht zu beantworten. Und wenn jetzt jeder, der darüber zu befinden hat, im Bundestag dann eine Gewissensentscheidung macht – so ist es ja gedacht, dann muss er sie dem medizinischen Nutzen gegenüber allen möglichen Formen des Schadens gesellschaftlicher, individueller Schaden, was man sich da auch immer denken kann, gegeneinander abwägen. Und das ist im Augenblick sehr schwer zu machen. Gerade wenn man nicht weiß, wie groß ist eigentlich die Zahl derjenigen, die immunologisch komplett naiv sind, mit anderen Worten, die weder geimpft noch genesen sind. Wie viele sind das? Und wie groß wäre dann der Impact einer neuen Welle? Das sind alles Dinge, die wir nicht wissen.
Nößler: Ich habe ja schon hin und wieder hier mal die These aufgestellt – Sie erinnern sich, Herr Scherer –, dass die Pandemie eigentlich eine Zeit und ein Ort ist, aber man müsste eigentlich sagen, eine Dystopie, Nichtort mit Blick aus der Evidenzbasierten Medizin heraus. Frau Lühmann, wie sieht das eine Vertreterin des Netzwerks Evidenzbasierte Medizin, wo es eigentlich immer darum geht, dass wir ja eigentlich nach dem Beweis suchen oder nach einer Sache, die etwas widerlegt. Aber wir wollen immer irgendwelche Daten haben. Und jetzt sagt Herr Scherer: Naja, wir haben die Daten irgendwie eigentlich gar nicht. Wurmt einen EBM-Menschen das nicht, wenn wir einfach nicht wissen, was wir wissen wollen?
Lühmann: Natürlich wurmt das. Und ich denke, dass hat zwei Seiten. Also zum einen – wie Martin Scherer gesagt hat – ist die Datenlage schlecht. Zum anderen lässt aber auch die Diskussion manchmal oder recht häufig die Systematik, die die evidenzbasierte Medizin gerne sehen würde, in einer Argumentation vermissen. Was man bei den Statements der unterschiedlichen Akteure oft natürlich heraushört – und das wird ja auch so vorgetragen –, sind einzelne Stücke von Evidenz. Also dann wird eine Studie zitiert, die irgendwie den Nutzen der Impfung nachgewiesen hat. Oder es wird eine Datenbasis zitiert, die irgendwo in einem Bundesland erhoben worden ist. Alles wunderbar. Aber was evidenzbasierte Medizin möchte, ist ein systematischer Ansatz, das systematisch erst eine Bestandsaufnahme gemacht wird, was für eine Datengrundlage haben wir für eine Begründung und im Zweiten dann kritisch bewertet wird, wie aussagekräftig ist diese Datenlage. Dass also mit wissenschaftlichen Methoden geschaut wird, wie wahrscheinlich gibt uns diese Datenlage Auskunft über die tatsächliche Situation oder wie wahrscheinlich ist es, dass ein bestimmtes Faktum über- oder unterschätzt wird. Und am Ende steht dann letztendlich die transparente Kommunikation, was man in diesem Prozess aufgefunden hat. Also gibt es Daten? Welche Qualität haben die Daten? Und inwieweit sind die geeignet, unsere Entscheidungen zu unterstützen? Und es ist ganz richtig, Pandemie ist– obwohl sie schon zwei Jahre läuft – trotzdem eine neue Situation, mit der das Gesundheitssystem und die wissenschaftliche Welt in Anführungsstrichen lernen müssen umzugehen. Aber genau diese verbleibende Unsicherheit, wenn man keine belastbaren Daten hat, oder wenn man nur schlechte Daten hat, die muss kommuniziert werden. Und es muss klar werden, wir treffen Entscheidungen jetzt möglicherweise nicht auf wissenschaftlicher Grundlage, obwohl wir es intendiert haben. Sondern wir lassen dort politische Erwägungen einfließen.
Scherer: Da würde ich gerne mal anschließen, Dagmar: Genau aus diesem Grund, Herr Nößler, haben wir uns auch so massiv gegen das STIKO-Bashing gewehrt und sind da auch als DEGAM in die Presche gesprungen. Nicht um Personen oder eine Institution zu verteidigen – das vielleicht auch – vielmehr, um eine Methodik zu schützen, die das Fundament unseres medizinischen Wissensmanagements in Deutschland ist, nämlich die Methoden der evidenzbasierten Medizin. Wo dann gesagt wird: Nein, das ist ein Luxus, können wir uns jetzt nicht erlauben, die Pandemie ist zu dynamisch, da können wir jetzt nicht drauf warten. Und das ist genau das Entscheidende, dass wir, wann immer wir können, auf diese etablierten Methoden zurückgreifen müssen. Und die Begründung, es ist alles zu schnell, es hat keine Zeit, da sind wir wieder beim Begriff der Evidenz-Triage, den wir hier vor einiger Zeit mal erfunden haben, das muss man immer sehr genau kommunizieren und begründen, warum und auf welcher Grundlage man jetzt welche Entscheidung trifft. Also im Grunde genommen, in die Richtung geht ja auch das aktuelle Papier des Netzwerks Evidenzbasierte Medizin. Im Grunde genommen ist Transparenz hier der entscheidende Begriff, um den es geht.
Nößler: Da kann man ja an dieser Stelle schon mal einen Punkt machen. Wenn ich Sie beide jetzt richtig zusammenfasse oder zumindest mal so einen Tenor versuche zu destillieren aus dem, was Sie beide jetzt gesagt haben: Transparenz – also es gibt Zeiten, da ist dieses systematische Vorgehen der evidenzbasierten Medizin nur bedingt möglich, weil es schnell gehen muss. Wir haben das bei den STIKO-Entscheidungen gehabt, die ja sehr nach den Prinzipien der EBM arbeiten. Und dann gibt es halt Momente, wo man einfach sagt, das geht jetzt nicht, wir müssen jetzt schnell handeln. Politik ist jetzt auch in der Pflicht und kann nicht warten, bis wir jetzt eine systematische Übersichtsarbeit gemacht haben. Und dann geht es letztlich nur um die Transparenz zu sagen, okay, an dieser Stelle müssen wir jetzt mit anderen Prinzipien aus den und den Erwägungen handeln. Das kann man an der Stelle schon mal mitnehmen. Also EBM heißt nicht, wir müssen das komplett durchexerzieren, wir müssen uns dann aber auch ehrlich machen, nicht wahr?
Scherer: Wir müssen uns ehrlich machen. Und zu diesem „ehrlich machen“ gehört dann auch, dass, sollte die Impfpflicht kommen, ganz offen kommuniziert wird, wir wissen es nicht genau. Wir können kaum eine einzige dieser fünf Fragen der aktuellen Stellungnahme des EBM-Netzwerks beantworten, aber wir haben die diffuse Sorge, dass uns im Herbst noch mal eine Welle überrollen könnte. Und deshalb wollen wir uns dann nicht vorwerfen lassen, irgendwas unversucht gelassen zu haben. Das wäre für denjenigen, der sich für die Impfpflicht ausspricht, meines Erachtens, eine ehrliche Aussage.
Lühmann: Wenn ich mich da noch mal kurz einschalten dürfte: Du hast jetzt gerade gesagt, man kann diese fünf Fragen nicht beantworten angesichts der aktuellen Evidenzlage. Das Problem geht vielleicht noch ein bisschen weiter. Man muss diese fünf Fragen erst mal stellen und auf den Tisch bringen. Also was zum Beispiel so ein bisschen oder ein wenig durch die Diskussion wabert oder sich fast auch so ein bisschen durchmischt, ist zum eine die Frage, dass diskutiert wird, wie wirksam sind Impfungen. Also welche Effekte kann man mit einer Impfung erzielen. Das ist aber nicht die zentrale Frage, die jetzt im Moment beantwortet werden muss. Sondern jetzt im Moment steht es an zu beantworten: Was ist der Nutzen einer Impfpflicht – wie auch immer sie ausgeübt werden mag – versus einer Strategie, die auf freiwillige Impfung setzt. Also dieses Delta rauszukitzeln. Was ist zu erreichen mit der Pflicht versus einer Strategie freiwillige Impfung. Das ist die Frage, die jetzt eigentlich im Raum steht. Und die wird immer wieder vermischt.
Scherer: Sehr gut, genau. Und da wollte ich genau einhaken, denn was wäre dann das Outcome dieser Frage? Wahrscheinlich die Impfrate.
Lühmann: Ja, das ist die Frage, was das Outcome ist. Auch das ist in der jetzigen Diskussion noch nicht genau auf den Punkt gebracht. Man hört immer Ausdrücke mit: Wir wollen zurück zum normalen Leben, das sei das Ziel der Impfpflicht. Oder wir müssen die Pandemie beherrschen, das könnte das Ziel der Impfpflicht sein. Letztendlich sind aber präzise Endpunkte, die man ansteuern und vielleicht auch irgendwann messen könnte, bisher noch nicht bekannt. Also das könnten sein Inzidenzen, das könnten sein Krankheitsfälle, das könnten sein schwere Verläufe, Krankenhausaufnahmen, es könnten sein Intensivbehandlungen und so weiter. Das sind die Endpunkte, die vielleicht aus gesundheitlicher Sicht, die man als patientenrelevant oder bevölkerungsrelevant, wenn man so will, bezeichnen würde, die müssten erst mal benannt werden. Das habe ich bisher in der Diskussion auch noch nicht so wahrgenommen.
Scherer: Also völlig d'accord. Weil diese Fragen, die ihr da gestellt habt, die zeigen eigentlich, wie weit wir von einem Stadium des Wissens oder der Sicherheit in der Frage der Impfpflicht entfernt sind. Also selbst, wenn wir Evidenz hätten dafür, dass eine Impfpflicht die Impfrate wirksam steigert, dann ist es ja noch nicht alles, was wir wissen müssen. Die nächste Frage wäre ja dann: Welchen Effekt hat diese Maßnahmen insgesamt auf den Pandemieverlauf? Wie bedeutsam ist eigentlich die Impflücke für die Gesamtimmunität in der Bevölkerung und so weiter. Also von der Nutzen-Schaden-Abwägung sind wir dann noch mal ein Stück entfernt. Mit anderen Worten tragen diese fünf Fragen – und deshalb ist es wichtig, das sie gestellt und diskutiert werden – dazu bei, um zu zeigen: Liebe Leute, wir sind hier in einer Grauzone, es ist ein Blindflug. Die politischen Entscheidungsträger haben eine sehr dünne wissenschaftliche Grundlage, auf der sie sich über die Impfpflicht austauschen. Das ist die Transparenz, zu der dieses Papier eigentlich beiträgt, wenn man sich ernsthaft mit diesen Fragen befasst.
Nößler: An der Stelle müssen wir tatsächlich die Hörerinnen und Hörer noch mal informieren, was die Basis des Austauschs gerade ist. Und zwar Stichwort Papier, Stichwort Stellungnahmen, die verlinken wir in den Shownotes, das machen wir in guter Tradition, da kommt man dran. Da gibt es vom Netzwerk Evidenzbasierte Medizin tatsächlich zwei Stellungnahmen mittlerweile zu dieser Diskussion der Impfpflicht. Das eine mit diesen fünf Kernpunkten, die jetzt hier schon angesprochen wurden. Das ist vom 24.01., die Stellungnahme, nämlich welche Kernpunkte müssen diskutiert werden. Und da gibt es eine Fortsetzung dieser Stellungnahme, die ist vom 1. Februar, die verlinken wir auch, da wird noch mal auf drei Kernfragen abgehoben, die jetzt hier auch schon genannt wurden, nämlich was ist Zweck und Ziel einer Impfpflicht, mit welcher Sicherheit wird angenommen, dass dieses Ziel erreicht werden kann. Und welche Evidenz begründet diese Einschätzung. Das ist so die Trias, klassische Politikberatung. Was ich ganz spannend finde, man macht ja üblicherweise, wenn man ein Gesetz erarbeitet, schreibt man dann ja schon dazu, was ist denn eigentlich das Problem und wie will ich es lösen. Also da wird ja schon eine Art Endpunkt definiert. Ich finde es interessant zu überlegen, wie man vielleicht den Gesetzgeber auch dahinbringt, in Endpunkten zu denken. Also noch ein bisschen krasser ausgedrückt und nicht so schwammig. Wir können jetzt gleich mal versuchen, diese Themen, diese Fragen, die Sie da angesprochen haben, so peu à peu durchzuarbeiten. Eine Frage war schon Impfrate, Impfquote. Inwieweit lässt sie sich mit einer Impfpflicht vs. eines anderen Instruments, beispielsweise bessere Werbemaßnahmen, wäre ja auch denkbar, es gibt auch einen entsprechenden Antrag im Bundestag von der Truppe um Kubicki, die genau das fordern. Welches Instrument ist besser geeignet, um die Impfquote zu erhöhen? Nehmen wir mal an, das wäre jetzt so ein Endpunkt. Stand heute, ich habe noch mal nachgeguckt beim Impfdashboard vom Bundesgesundheitsministerium, sind in Deutschland 84 Prozent aller Erwachsenen, also alle ab 18, vollständig geimpft. Also vollständig heißt abgeschlossen Impfserie. 84 Prozent. Wenn man guckt bei den 60-Jährigen, also gemeinhin als besonders empfindliche Gruppe, 88 Prozent. Das heißt, da wäre eine Impflücke von 12 Prozent der Bevölkerungsgruppe. Jetzt mal Hand aufs Herz an Sie beide. Gibt es denn überhaupt Fälle in der Wissenschaft, bekannte Literatur, die uns zeigt, dass wir solche Lücken mit einer Impfpflicht schließen werden können?
Scherer: Der Grund, warum wir uns in der DEGAM bislang sehr zurückhaltend zur Impfpflicht geäußert haben, ist genau dieser, dass es für diese komplexe Intervention keine brauchbaren Wirksamkeitsbelege gibt. Und um das hier noch mal ganz deutlich zu machen: Weder für das Outcome Steigerung der Impfragte noch – und das ist jetzt besonders entscheidend für eine Risiko-Nutzen-Abwägung – für die Verhinderung schwerer Verläufe. Man bräuchte dann so was wie ein NNE, Number needed to enforce. Also wie viele Menschen, die eigentlich nicht wollen, muss ich zum Impfen zwingen, um einen schweren Verlauf zu verhindern. Und erst dann, wenn ich das quantifizieren kann, kann ich eigentlich Risiko-Nutzen-Abwägungen, Nutzen-Schaden-Abwägungen machen. Und dann die gesellschaftlichen Verwerfungen, den ganzen Streit, die Spaltung zwischen Ungeimpften und Geimpften und all diese dysphorische Begleitmusik des Ganzen dem gegenüberstellen. Vorher ist das nicht möglich.
Nößler: Also es gibt diese Nutzenbelege nicht. Ich will es mal ein bisschen drastischer machen. Sie haben jetzt die NNE entwickelt, die Number needed to enforce. Ich könnte natürlich das Instrument Impfpflicht durchaus über eine Beobachtungsstudie mir angucken, ob es wirkt, wie es wirkt. Aber Fakt ist, eine Impfpflicht hat immer was von Intervention. Und jetzt machen wir bei den Goldstandard und würden versuchen – also nur mal hypothetisch in unseren Köpfen –, dass man so was über eine ordentliche RCT untersucht, so eine Impfpflicht. Können Sie sich vorstellen, dass so was je von der Ethikkommission genehmigt wird?
Lühmann: Ich glaube, das ist eine sehr, sehr schwierige Frage, die Sie jetzt gerade ansprechen. Von der Universität Basel ist eine Analyse erschienen, die sich angeschaut hat, wie viel randomisierte kontrollierte Studien wurden zu Fragestellungen im Kontext von COVID-19 gemacht, wo kommen diese Studien her und was für Themen haben sie behandelt. Und das Ergebnis dieser relativ schockierenden Analyse war, dass ein sehr, sehr starker Forschungsschwerpunkt auf pharmakologischen Interventionen gelegen hat, dass Deutschland nur marginal an randomisierten kontrollierten Studien zu COVID-Fragestellungen beteiligt war und dass zu nicht pharmakologischen komplexen Interventionen – also das reicht von, na gut, Masken tragen, da gibt es noch ein paar Studien, aber zu Teststrategien, zu Präventionsstrategien in zum Beispiel Pflegeeinrichtungen, dass es da kaum belastbare Evidenz gibt oder zum Beispiel auch zum Thema Schulöffnung. Dass es extrem schwierig war, dort Studien umzusetzen. Obwohl aus methodischer Sicht das durchaus vorstellbar gewesen wäre, dass man per Zufallsprinzip größere Beobachtungseinheiten einer Intervention zuordnet oder eben nicht. Aber es ist einfach unterblieben. Es sind sicherlich viele Probleme, die dem Phänomen zugrunde liegen. Eines davon ist in der Tat die Ethik. Und zwar wird von Ethikkommissionen im Prinzip immer ein informierter Consent gefordert für die Teilnahme an einer Studie. Das heißt, ein Proband, eine Probandin, der/die sich an einer Studie beteiligt, muss informiert zustimmen, erst dann kann er oder sie in der Studie eingeschlossen werden. Bei diesen Studien zu extrem komplexen Interventionen, die eine ganze Einrichtung umfassen oder die vielleicht eine ganze Region umfassen, ist es natürlich nicht möglich, diesen informierten Consent von jedem einzelnen Studienteilnehmer zu bekommen. Und das hat sich als problematisch bei der Begutachtung durch Ethikkommissionen zum Beispiel herausgestellt.
Nößler: Das wäre das Beispiel, das Martin Scherer immer wieder mal bringt, diese wissenschaftlichen Städtepartnerschaften, wo man irgendwie zwei Regionen hinstellt. Die eine Region A macht diese Intervention, Region B macht jene, Region C macht vielleicht gar nichts. Da müsste dann quasi der Bürgermeister den Inform Consent machen. Oder wie wäre das, Herr Scherer?
Scherer: Genau, das wäre eine quasi experimentelle Studie, da haben wir Möglichkeiten liegenlassen. Das hätte es vielleicht häufiger geben sollen.
Lühmann: Ich würde da gerne noch einen Aspekt anfügen. Was eine Voraussetzung ist für eine randomisierte kontrollierte Studie ist, dass die Durchführenden bzw. die wissenschaftliche Gemeinschaft, Scientific Community sich auch unsicher sein muss, welches die Bessere dieser beiden Optionen ist. Nur dann ist es tatsächlich ethisch erlaubt, eine randomisierte kontrollierte Studie zu machen. Wenn jetzt aber die Wahrnehmung eine solche ist, dass eine der beiden zu vergleichenden Optionen auf jeden Fall die bessere ist, dann verbietet sich natürlich so ein Studiendesign. Und dann kommt tatsächlich auch von politischer Seite, von Entscheidungsträgerseite dann auch eher das Veto, dass man aus der Überzeugung heraus – wir wissen eigentlich, was besser ist – eine Randomisierung für unethisch hält.
Scherer: Wenn ich mich nicht täusche, hast du gerade den Begriff der wissenschaftlichen Equipoise umschrieben.
Lühmann: Ich habe es versucht.
Nößler: Das können Sie noch einmal ausführen.
Lühmann: Letztendlich bedeutet es, dass Randomisierung dann ethisch gerechtfertigt ist, wenn nicht klar ist, welche dieser beiden Optionen, die verglichen werden sollen, mehr Vorteile bringt sozusagen, dann ist es legitim.
Scherer: Im Grunde genommen geht es hier um die medizinethische Grundlage von Forschung. Wenn ich davon überzeugt bin, dass eine der beiden Optionen die wirksamere ist, dann darf ich die Studie eigentlich nicht machen. Weil ich dann eine Gruppe benachteiligen würde. Ich muss mir schon unsicher sein. Und das müssen gleiche Bedingungen herrschen. Und die Hypothese muss hinsichtlich der Unsicherheit für beide Gruppen gleichgewichtet sein.
Nößler: Also jetzt mal eine Analogie. Nehmen wir mal an, ich mache eine Studie: Was schützt gut gegen Regen? Und ich mache in meinen Antrag die Nullhypothese hinein: Ein Regenschirm schützt nicht vor Regen. Dann würde man sich bei der Ethikkommission an den Kopf fassen und sagen, das ist ja sinnlos, das ist ja völlig plausibel, dass der schützt, das musst du nicht erforschen.
Scherer: Ja, oder die berühmte Studie zum Fallschirm. Die würde keine Ethikkommission bewilligen.
Lühmann: Für diese beiden Beispiele, für den Regenschirm als auch für den Fallschirm, gibt es Belege aus Voruntersuchungen, aus Beobachtungen, die zu der starken Annahmen führen, dass das ein Regenschirm eben sehr wohl gegen Regen schützen kann oder ein Fallschirm gegen Versterben nach dem Sprung aus dem Flugzeug. Das sind starke Effekte aus Beobachtungsstudien, die jetzt vielleicht eine Ethikkommission dazu bewegen würde zu sagen: Nein, also diese Studie wäre absolut unethisch.
Nößler: Dann stelle ich jetzt mal eine andere Hypothese auf oder eine Nullhypothese. Und zwar mit Blick wieder Richtung Impfung. Ich sage mal so, jetzt auch aus der Beobachtung heraus, was im Moment stattfindet: Wir sind mit Omikron im Moment beschäftigt, wir wissen alle nicht, was nach Omikron kommt. Im Moment sind wir aber damit beschäftigt. Und wir erleben Land- und Stadtkreise, die haben 7-Tage-Inzidenzen von 3.000. Und der Trend könnte ja durchaus ein bisschen nach oben zeigen. Und jetzt müsste man ja für eine Impfpflicht die Nullhypothese aufstellen: Eine Impfpflicht steigert die Impfrate nicht, zum Beispiel. Bei den Zahlen hätte ich Zweifel, wenn man überlegt, so eine Impfpflicht, bis die greift, ist das Ding doch über uns drübergerollt. Wie müssen wir das bewerten? Das momentane Infektionsgeschehen mit der Überlegung, was kann eine Impfpflicht überhaupt erreichen?
Scherer: Genau, das ist das Timing-Problem, das wir im Augenblick haben, das Sie korrekt beschreiben. Für Omikron sind wir zu spät und für die eventuelle Herbstwelle zu früh. Weil wir dann noch überhaupt nicht wissen, was da auf uns zukommt.
Lühmann: Ja, so ist es. Wie auch immer man sich eine Umsetzung einer Impfpflicht vorstellen muss oder kann, die kommt sicher zu spät für die Omikron-Welle. Ich glaube, so viel kann man dazu sagen, die Welle läuft jetzt gerade. Und für die Vorbeugung einer Herbstwelle – es weiß keiner, was für eine Variante kommt, was für eine Ansteckungsfähigkeit die haben wird, wie gefährlich sie sein wird. Wenn das Argument ist, dieser Herbstwelle vorzubeugen, muss man ganz klar darauf hinweisen, dass man gar keine Evidenzen hat. Man hat vielleicht Vermutungen aus epidemiologischen Grundlagen forscherischer Richtung, aus virologischer Sicht, die Modellierer machen da sehr viel. Aber man muss einfach offen und ehrlich sagen, man weiß nicht, was da im Herbst kommen wird und wie sich das auf die Nutzen-Schaden-Abwägung einer Impfpflicht auswirken wird.
Nößler: Ich will noch mal in dieses Papier hineinschauen vom Netzwerk, Frau Lühmann, bei diesen fünf Punkten, das ist das Dokument vom 24. Januar. Da gibt es einen ersten Punkt, den habe ich beim mehrfachen Lesen, ich gebe zu, als etwas kryptisch empfunden. Vielleicht können Sie da ein bisschen Klarheit reinbringen. Ich lese das mal vor, was da steht: Einer der fünf Kernpunkte, die eben unverzichtbar sind. Da heißt es: „Erstens muss klar sein, dass es um Nutzen und Schaden der Verpflichtung zur Impfung im Vergleich zu keiner Verpflichtung geht. Fragen zum Nutzen und Schaden der freiwilligen Impfung im Vergleich zu keiner Impfung sind separat zu klären.“ Diesen zweiten Satz, das ist das, was Sie, glaube ich, eben sagten, dass das gerne vermischt wird im Moment, nämlich nutzt die Impfung versus Impfpflicht. Aber diesen ersten Satz, den müssten Sie, glaube ich, noch mal ausführen. Da habe ich lange drüber nachgedacht.
Lühmann: Also im Prinzip habe ich das versucht eben auch schon ein bisschen klar zu machen. Was im Moment entschieden werden muss, ist quasi die Frage, was ist besser, um einen möglichen Zusatznutzen durch die Impfung zu gewinnen. Zum einen eine Strategie, die Menschen verpflichtend zu impfen, also die Impfpflicht. Zum anderen es bei der freiwilligen Impfung zu belassen. Also es geht hier nicht darum, was kann die Impfung überhaupt leisten, sondern es geht darum zu entscheiden, wie groß ist der angenommene Vorteil, den man durch die Impfpflicht erzielt im Vergleich zum Weiterführen der freiwilligen Impfoption. Das ist damit gemeint.
Scherer: Genau. Es geht einfach um zwei völlig unterschiedliche Interventionen, die nicht miteinander vermengt werden dürfen. Die Frage der Intervention, Spritze in den Delta-Muskel, die steht hier überhaupt nicht zur Debatte. Ich denke auch, dass jeder wissenschaftlich seriös denkende Mensch die für sich eindeutig beantwortet hat, eine Impfung ist hoch wirksam. Die Spritze in den Delta-Muskel mit Biontech oder anderen Impfstoffen, die zugelassen sind, ist hochwirksam. Es steht hier nicht zur Diskussion. In Diskussion steht die komplexe Intervention Impfpflicht mit allem, was da dranhängt bezogen auf diejenigen – nur für die ist es ja relevant – die ungeimpft sind und sich nicht impfen lassen wollen. Und wenn du dich nicht impfen lässt, dann Punkt, Punkt, Punkt, blüht dir ... Und diese komplexe Intervention in ihrer Wirksamkeit zu beschreiben – darum geht es hier.
Nößler: Wenn du nicht geimpft bist, dann blüht dir ... Also wir wissen, wenn wir nicht gegen COVID-19 geimpft sind, dann blüht uns ein höheres Risiko für Hospitalisierung, im Zweifel sogar für einen fatalen Verlauf. So viel kann man ja schon aus der Aktenlage im Moment herauslesen.
Scherer: Das ist die Virusgerichtsbarkeit. Aber es geht jetzt um die Exekutive.
Nößler: Jetzt geht es um die Exekutive. Also ich meine, wir haben ja, wenn wir ehrlich sind, bei dieser Impfung – ich würde mal sagen, Frau Lühmann, das ist sicherlich die größte Beobachtungsstudie, die es jemals gegeben hat auf der Welt bei diesen Impfstoffen, oder?
Lühmann: Sicherlich, eine sehr große Beobachtungsstudie, was wir hier sehen. Ja. Allerdings mit sehr unterschiedlicher Systematik und Qualität der Datenerfassung. Das muss man auch zugeben.
Nößler: Da kommt die Kritik der evidenzbasierten Mediziner. Jetzt kommen wir in die Exekutive – Martin Scherer hat es schon angesprochen. Also, das EBM-Netzwerk sagt natürlich auch, wenn wir über diese Komplexintervention Impfpflicht diskutieren, dann müssen wir auch darüber reden, wie diese Intervention durchgeführt wird. Und durchgeführt, sprich Impfexekutive wäre dann eben zu überlegen, wie stellen wir sicher, dass eine Verpflichtung auch wirkt. Das ist im Moment noch so ein bisschen offen. Man kann sich da Mögliches denken. Ich sage jetzt mal Impfzwang? Bis hin zu Bußgeldern für Ungeimpfte – was ist denn da überhaupt realistisch? Bei den Masern kennen wir es. Das ist die im Gesundheitswesen. Da gäbe es dann quasi ein Beschäftigungsverbot oder für die Kids ein Aufnahmeverbot. Was ist denn hier eigentlich denkbar bei so einer allgemeinen Impfpflicht?
Lühmann: Ich finde es sehr, sehr schwierig, darüber nachzudenken oder verschiedene Optionen durchzuspielen, weil der Blick natürlich nicht nur auf die möglichen gesundheitlichen Vorteile oder Nachteile gerichtet sein kann, sondern wie auch immer man die Umsetzung einer solchen Impfpflicht anlegt, das hat natürlich erhebliche ethische Aspekte, es hat mit Sicherheit juristische Aspekte, die sich da dranknüpfen. Und es hat auch gesellschaftliche Aspekte. Also wir beobachten ja schon seit einiger Zeit, dass es starke Strömungen Pro und Kontra des Impfen überhaupt gibt. Wenn jetzt quasi noch mal mit Zwang unterstützt noch mal nachgeschoben wird, dann wird das sicherlich auch auf der gesellschaftlichen Seite Konsequenzen nach sich ziehen. Man muss auch hier sagen, man weiß es nicht, aber es ist eben zu befürchten. Und man kann, glaube ich, die Frage der Impfpflicht nicht nur mit der medizinischen Brille diskutieren. Sondern man muss da deutlich breiter schauen. Das ist nicht neu, diese multiperspektivische Betrachtung von Gesundheitsmaßnahmen firmiert unter dem Begriff Health Technology Assessment. Das heißt, dass eine geplante Intervention aus vielen unterschiedlichen Perspektiven durchleuchtet wird. Natürlich ist die medizinische Nutzen-Schaden-Abwägung das zentrale Element. Aber man würde auch schauen, welche wirtschaftlichen Implikationen bringt das mit sich, welche Implikationen aus gesellschaftlicher Sicht. Man würde ethische Implikationen anschauen. Und das Ganze auch noch vor dem Hintergrund der Gesetzeslage des Grundgesetzes zum Beispiel durchleuchten. Also es kann nicht so eine einfache monodimensionale Betrachtung sein.
Nößler: Und ein Secondary Outcome könnte natürlich die Fragestellung sein – ich glaube, Sie haben es angedeutet, Frau Lühmann – ob so eine Impfpflicht eben nicht nur Kollateralnutzen, sondern eben Kollateralschaden haben könnte. Was zum Beispiel generell die Akzeptanz von Impfungen betrifft. Letztlich – das sind jetzt alles nur Gedanken – muss man auch offen auch offen diskutieren, ob so eine Verpflichtung nicht den gegenteiligen Effekt auch bringen könnte auf lange Sicht.
Scherer: Bis hin zu dem gesellschaftlichen Unfrieden, der schon angesprochen wurde. Wir haben aber eine Stufe übersprungen.
Nößler: Oha.
Scherer: Nämlich die des Monitorings. Die Umsetzung der Impfpflicht müsste ja erst mal auch über die Erfassung von Impfungen in einem zentralen Register erfolgen. Das wäre ja der erste Schritt, dass ich überhaupt erst mal weiß, wo sind die blinden Flecke der Impfung, wer ist geimpft, wer nicht. Der Aufbau eines solchen Registers ist aber extrem aufwendig. Und Datenschützer haben da auch schon ihre Bedenken angemeldet.
Nößler: Ich kann Sie da aber beruhigen, Herr Scherer. Wir haben nämlich just, dass wir diese Podcast-Episode ausstrahlen, ein Interview bei uns in der Zeitung mit Carola Reimann. Das ist seit Januar die neue Bundesvorsitzende des AOK-Bundesverbands. Und die sagt: Wir brauchen gar kein Impfregister, wir können wie bei jeder anderen Impfung auch die Impfung mit den Versichertendaten zusammenfassen. Das ist erlaubt, das wird auch gemacht. Also die Krankenkassen wissen heute, wie viele ihrer Mitglieder beispielsweise eine zweite MMR hatten. Das könnte man bei COVID-19 theoretisch auch machen.
Scherer: Ja, das ist mir bekannt. Impfregister ist die eine Möglichkeit. Manche sagen, es würde zu lang dauern. Es gibt schon Ideen, wie man es trotzdem machen kann. Dass man die Bürgerinnen und Bürger anschreibt, zum Beispiel über die Krankenkassen oder auch über die Kommunen. Klar, ist eine Möglichkeit. Wie gut dann die Datengrundlage ist, die uns das alles vermittelt, das ist ungewiss. Da würde ich erst mal ein Fragezeichen dahinter machen. Aber die vielen anderen Aspekte der Umsetzung, wie soll das sanktioniert werden, soll es über ein Bußgeld laufen, kaufen sich dann die Reichen frei, kriegen wir eine Attestflut mit vermeintlichen gesundheitlichen Gründen, die gegen eine Impfung sprechen. Alles das sind ja sehr komplexe Umsetzungsfragen. Ich glaube, das kommt alles in den Topf der Harms, der Aufwand, die Umsetzung, die Sanktionierung, die Spaltungsthemen in der Gesellschaft. Sie haben dann noch einen wichtigen weiteren Aspekt angesprochen, nämlich den der Kollateralskepsis im Hinblick auf andere notwendige Impfungen des Impfkalenders. Zur Wahrheit gehört auch, dass wir all diese möglichen negativen Auswirkungen einer Impfpflicht nicht quantifizieren können, ebenso wenig wie wir einen möglichen Nutzen quantifizieren können. Und mit Nutzen meine ich jetzt tatsächlich nicht die Steigerung der Impfrate, sondern die der Patient-relevant Outcomes.
Nößler: Also weniger Hospitalisierung, weniger Tod – das sind die patientenrelevanten Endpunkte hier.
Scherer: Richtig.
Nößler: Wir müssen uns auch Richtung Ende bewegen oder mehr oder minder wollen wir jetzt vielleicht dann auch mal zum Ende zu kommen. Ich versuche an dieser Stelle mal so ein Zwischenfazit. Und Sie beide dürfen mich sofort bitte korrigieren. Das ist ja auch gute Übung hier, dass der Nößler was sagt, was dann hinterher wieder verworfen wird von anderen. So ein Fazit im Moment ist, wir müssen Fragen stellen, die wir gar nicht beantworten können. Ist das soweit korrekt?
Lühmann: Ja. Sorgfältig ausformulierte Fragen, die aufzeigen, was man eigentlich wissen müsste, um fundierte Entscheidungen zu treffen.
Nößler: Dann hake ich direkt da noch mal ein, Frau Lühmann: Aus Sicht einer Vertreterin des Netzwerks Evidenzbasierte Medizin sagen Sie, wir müssen diese und jene Fragen stellen. Und nur wenn wir diese Fragen stellen und Antworten darauf suchen, können wir uns in dieser Debatte überhaupt evidenzbasiert nach vorne bewegen. Wenn wir jetzt aber gleichzeitig feststellen, wir können diese Fragen eigentlich gar nicht beantworten, ist da nicht auch folgerichtig oder wäre es da nicht plausibel, aus EBM-Sicht zu sagen, lasst die Finger von der Impfpflicht, solange ihr diese Fragen nicht beantworten könnt?
Lühmann: Das wäre fast schon eine Antwort darauf. Aus meiner Sicht muss klar auf den Tisch: Was sind die relevanten Fragen? Welche Teilfragen kann man möglicherweise schon beantworten? Also ich habe eben versucht aufzuzeigen, dass es eine multidimensionale Betrachtung sein muss. Man kann mit Sicherheit die im Kern stehenden medizinischen Fragen noch nicht beantworten, aber ein Teil der juristischen Fragen, ein Teil der ethischen Problematik kann man mit Sicherheit schon abwägen. Und unser Appell ist es, dass das, was man schon weiß, auf den Tisch muss, dass transparent werden muss, auf welcher Grundlage treffen wir jetzt diese Entscheidung für oder gegen eine Impfpflicht.
Nößler: Und jetzt meine Frage, Herr Scherer, ich weiß gar nicht, wie oft ich Sie Ihnen schon gestellt habe, wahrscheinlich muss ich irgendwann eine Kiste Wein nach Hamburg bringen, wenn wir das so weitermachen.
Scherer: Sie können sie auch schicken, oder wollen Sie mittrinken?
Nößler: Ich würde mich anbieten zu helfen. Weil so eine Kiste Wein, das ist doch ein bisschen Arbeit. Aber nach all dem, was wir heute besprochen haben und nachdem, was auch Frau Lühmann wirklich prononciert gesagt hat: diese Fragen müssen auf den Tisch, das ist der erste Schritt. Das ist ja der Fall spätestens seitdem das Netzwerk diese Fragen auch zur Verfügung gestellt hat für die Politik. Und nachdem, was wir heute besprochen haben, Herr Scherer, kommt die Impfpflicht oder kommt sie nicht?
Scherer: Sie haben mir die Frage schon einmal gestellt und mir auch für die richtige Beantwortung tatsächlich eine Flasche eines Getränks angeboten. Ich glaube, es war beim Jahresrückblick, zwölf Lektionen, im Dezember, die letzte Folge. Da habe ich mich dahingehend geäußert, dass ich nicht glaube, dass die Impfpflicht kommen wird. Und würde das jetzt noch mal wiederholen.
Nößler: Okay. Also wir nähern uns der Kiste.
Scherer: Je nachdem wie oft Sie mir diese Frage stellen. Jedes Mal eine Flasche, dann sind wir schnell bei einer Kiste.
Nößler: Gut. Dann würde ich sagen, machen wir an dieser Stelle einstweilen einen Punkt. Wir haben heute darüber gesprochen, welche Fragen zu stellen wären, wenn man über so eine komplexe Intervention, wie die Einführung einer allgemeinen oder altersbezogenen Impfpflicht spricht. Und wir haben auch, glaube ich, ein bisschen herausarbeiten können, dass diese Fragen, die man auf den Tisch legen muss, man im Moment auch nur noch bedingt beantworten kann. Und dann im Zweifel noch mehr Fragen offen werden, Stichwort Kollateralskepsis. Das war so ein Begriff, den ich hier heute gelernt habe von Martin Scherer. Das sind aber Fragen, die man stellen muss, wie man es bei einem Health Technology Assessment machen würde. Oder die Politik würde sagen: Technik-Folgenabschätzung. Vielleicht war dieses Gespräch zwischen Ihnen beiden heute ein kleiner Beitrag dazu aus der Kategorie Policy Affairs. Wir werden es sehen, wir werden es beobachten. Ich jedenfalls bedanke mich sehr, Frau Lühmann, dass Sie dabei waren, und natürlich auch bei Ihnen, Herr Scherer.
Scherer: Vielen Dank auch von meiner Seite, Dagmar. Es war mir eine Freude, dass du dabei warst. Gerne wieder.
Lühmann: Danke sehr. Danke für die Einladung auch. Das war ein sehr gutes Gespräch.
Nößler: Das sehe ich ganz genauso. Vielen Dank von meiner Seite. An Sie beide: Bleiben Sie gesund und fröhlich. Und Herr Scherer, für unsere Hörerinnen und Hörer, wie wäre es mit einem Cliffhangerchen? Haben Sie was in petto?
Scherer: Ich versuche die Brücke zu schlagen von dem Resümee des heutigen Gesprächs hin zur nächsten Folge. Wir haben versucht vorzumachen, wie man sich in einer wissenschaftlichen Diskussion ehrlich machen kann. Und wir haben versucht darzulegen, wie die Akzeptanz von politischen Entscheidungen dadurch gesteigert werden kann, indem man sie gut erklärt und indem man ganz deutlich macht, was man weiß und was man nicht weiß und was die Grundlage für die Entscheidung ist. Das ist etwas ganz Entscheidendes. Das hat viel mit Akzeptanz zu tun, viel mit Vertrauen in die Wissenschaft und die Politik. Und am Ende aber auch mit Health Literacy. Am Ende führt das Offenlegen von Dingen, die man weiß, die man nicht weiß, das gute Erklären von Entscheidungen auch dazu, dass Menschen eine bessere Gesundheitskompetenz entwickeln. Und das soll das Thema – jetzt habe ich es gespoilert – unseres nächsten Podcasts sein.
Nößler: Okay, vom Cliffhanger zum Spoiler, auch das ist eine Evolution, die durchaus möglich ist in einem Podcast. In diesem Sinne, bleiben Sie alle fröhlich, an die Hörerinnen und Hörer da draußen, Sie beide. Es war mir eine Freude. Auf bald und Ahoi!
Lühmann: Tschüss.
Scherer: Tschüss.
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