Hinter uns liegen zwei ereignisreiche und bestenfalls auch lehrreiche Jahre. Vor uns liegen Omikron, Pi, Sigma, Tau und Co – und Berge wissenschaftlicher Literatur. Man müsste meinen, dass 2022 starke Evidenz in der Medizin Einzug hält. Das Autoren vom CEOsys kommenden jedenfalls für die Leitlinien in der Intensivmedizin zu einem ernüchternden Fazit: „Viele Empfehlungen basieren auf einer unzureichenden Evidenzlage, einige sind widersprüchlich.“ Woran es liegt, besprechen wir zum Auftakt ins Evidenzjahr 2022.
Und wir schauen uns einer Querschnittstudie aus Hamburg an, eine Auswertung aus der „Hamburg City Health Study“ (HCHS). Darin kommen die Autoren zu dem Fazit: „Systematic organ screening 6 to 9 months after mild to moderate SARS-CoV-2 infection is recommened.“ Ist damit der Weg in die Überdiagnostik und Überversorgung vorgezeichnet?
Literatur
Deutscher. Vergleich und Bewertung internationaler Leitlinien zur Behandlung schwerer Verläufe von SARS-CoV-2-Infektionen. Deutsches Aerzteblatt. 2022. https://www.aerzteblatt.de/treffer?mode=s&wo=1041&typ=16&aid=222771 (accessed 13 Jan 2022).
Petersen EL, Goßling A, Adam G, et al. Multi-organ assessment in mainly non-hospitalized individuals after SARS-CoV-2 infection: The Hamburg City Health Study COVID programme. European Heart Journal Published Online First: 6 January 2022. doi: https://doi.org/10.1093/eurheartj/ehab914
Transkript
Nößler: Willkommen im dritten Pandemiejahr. Hinter uns liegen zwei ganz sicher ereignisreiche und bestenfalls auch lehrreiche Jahre. Vor uns aber liegen Omikron, Pi, Sigma, Tau und Berge wissenschaftlicher Literatur. Deswegen wollen wir in dieser Episode vom EvidenzUpdate-Podcast auf das Evidenzjahr 2022 blicken. Und damit ganz herzlich willkommen! Wir, das sind ...
Scherer: Martin Scherer.
Nößler: Präsident der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin der DEGAM und Direktor des Instituts und Poliklinik für Allgemeinmedizin am UKE in Hamburg. Und hier auch am Mikro ist Denis Nößler, Chefredakteur der Ärzte Zeitung aus dem Haus Springer Medizin. Moin nach Hamburg, Herr Scherer, ich grüße Sie!
Scherer: Ich grüße Sie, Herr Nößler! Hallo!.
Nößler: Sind Sie denn gesund und wohlbehalten ins neue Jahr hineingekommen?
Scherer: Jawohl, bin ich. Danke der Nachfrage. Sie hoffentlich auch.
Nößler: Ganz ruhig vor allem. Ich glaube, wie bei ganz vielen, oder? Also so richtig super Partystimmung war ja im letzten Jahr dann auch nicht mehr.
Scherer: War es nicht. Und außerdem wurde zu recht empfohlen, die Feierlichkeiten etwas klein zu halten und hat vielfach auch funktioniert, an anderen Stellen allerdings nicht. Es gab auch Partys, die zu groß waren.
Nößler: Ja, und dann auch mit entsprechen Kollateralauswirkungen wahrscheinlich.
Scherer: Ja.
Nößler: Herr Scherer, haben Sie eigentlich Griechisch gehabt in der Schule?
Scherer: Ja, zum Teil. Zumindest, wir hatten einen sehr griechisch versierten Lateinlehrer. Und der hat uns immer auch so Querverbindungen aufgemacht. Aber ich hatte das nicht als Unterrichtsfach. Wieso fragen Sie?
Nößler: Dann würde ich sagen, das Alphabet haben Sie wahrscheinlich einmal drangehabt, ne? Bei Omega ist Schluss.
Scherer: Da ist Ende, genau.
Nößler: Was machen wir eigentlich in der Coronapandemie, wenn wir Omega erreicht haben, bei den Varianten? Ist dann Schluss mit der Pandemie? Hören wir dann einfach aus?
Scherer: Dann machen wir es wie in der Mathematik. Wenn da die Zahl der Buchstaben nicht ausreicht, dann werden sie meistens durch Indizes ergänzt. Das sind kleine tiefgestellte Ziffern oder Symbole. Und dann geht alles wieder von vorne los. Das kann man beliebig weitermachen.
Nößler: Alpha 1, Alpha 2.
Scherer: Genau, zum Beispiel.
Nößler: Oje. Keine guten Aussichten. Die Frage ist natürlich auch durchaus rhetorischer Natur gewesen, das ahnen Sie. Wir haben jetzt zwei Jahre Pandemie hinter uns. Und es gibt da noch diejenigen mit der Laborhypothese, bei denen ist die Pandemie schon etwas länger. Und wir sind aber Anfang 2022 an einem ähnlichen Punkt wie vor 12 Monaten, nämlich an dem Punkt voller Unsicherheiten. Wie geht dieses Jahr weiter? Ich nenne mal so ein paar Fragen, die im Moment so im Raum stehen: Wie wirken die Impfungen? Wirken die noch gegen B.1.1.529, das ist Omikron? Sind die Schnelltests genug sensitiv? Das ist die Diskussion, die wir gerade haben. Werden die neuen Arzneimittel ihre Heilsversprechen einhalten können? Und so weiter und so fort. Welche Variante kommt als Nächstes? Deltakron haben wir die Tage gehört aus Zypern. Der Verlauf – Hand aufs Herz, Herr Scherer – ist völlig offen. Wir wissen nicht, wo wir am Ende des Jahres rauskommen, oder?
Scherer: Vor allem Heilsversprechen sind immer schwierig, weil sie ohnehin nie eingehalten werden können. Da ist Erwartungsmanagement gefragt. Da muss man immer wieder auch ganz deutlich machen, es wird dieses heilsbringende Medikament nicht geben. Wir haben zum Glück die Impfung. Sie haben es schon angesprochen. Ob Sie bei den unterschiedlichen Varianten, die noch kommen werden, auch halten, das ist noch offen. Im Augenblick sieht es gut aus. Und ich denke, dass die Lage sich auch zunehmend beruhigen wird. Es wird sich in der Bevölkerung eine zunehmende Immunität aufbauen und schwere Verläufe werden somit insgesamt seltener werden. Das wäre zumindest meine Hoffnung und auch die vorsichtige Prognose.
Nößler: Das heißt, das Jahr 2022 wird hoffentlich das Jahr der Immunkompetenz dann so richtig.
Scherer: Wäre zumindest zu hoffen.
Nößler: Ist zu hoffen. Sie hatten mit Blick auf die Dinge, die so offen sind, die noch vor uns liegen – könnte man ja ganz salopp formulieren: Man hat ja eigentlich überhaupt keinen Bock mehr auf diese Pandemie, mit Verlaub. Und so ein bisschen Verdruss kann man doch verstehen. Also Pandemüdigkeit macht sich breit.
Scherer: Es gibt Verdruss und Verdruss. Also die Müdigkeit vieler Familien, meine eigene eingeschlossen, kann ich nur zu gut verstehen. Und für diese Art von Verdruss habe ich auch vollstes Verständnis. Die Akkus sind einfach leer. Die waren auch schon vor längerer Zeit leer. Aber es gibt da noch einen anderen Verdruss, diesen öffentlichen Verdruss, wo viele problematische Charaktere auftreten, auf Demonstrationen und dann laut „Diktatur“ rufen. Das ist ein Verdruss, den finde ich eher problematisch. Die Pandemie wurde ja nicht erfunden, um die Leute zu ärgern. Und am Allerwenigsten hat sich der Bundesgesundheitsminister oder die Regierung sich die Pandemie gewünscht. Es nützt ja nichts. Wir müssen damit umgehen. Und dem Virus ist es völlig egal, ob wir „Diktatur“ rufen oder uns gegenseitig Vorwürfe machen oder nicht. Das Virus versteht nur eine Sprache und das ist eben die der Immunkompetenz.
Nößler: Außerdem haben Viren keine Ohren. Das nur mal so nebenbei. Also Verdruss ist Verdruss. Darf man tatsächlich in diesen Tagen durchaus differenzieren, dass Pandemüdigkeit, die uns alle natürlich irgendwie befällt, noch ein bisschen was anderes ist, das man ein bisschen gradieren kann zu gewissen Reaktionen, die man eben auf der Straße erlebt. Herr Scherer, wir haben uns vorgenommen, für diese erste Episode im Jahr 2022, das ist dann jetzt auch schon das dritte EvidenzUpdate-Jahr – darf man an dieser Stelle auch mal mitteilen – in das wir hineingehen, haben wir uns vorgenommen, so ein Evidenzausblick zu wagen und ein bisschen zu schauen, ob wir mehr medizinisch-wissenschaftliche Evidenz in diesem Jahr bekommen werden, eben gerade mit Blick auf Corona. Ich habe mal nachgeguckt, am Montag bei der AWMF, da gibt es eine Übersicht zu den COVID-19-Leitlinien. Und es ist eine relativ lange Liste. Und in dieser Liste sind es tatsächlich exakt zwei S3-Leitlinien, die dort gelistet sind. Das ist eine von den Kinderärzten und Epidemiologen zur Prävention in Schulen. Und dann gibt es eine S3-Leitlinie von Intensivmedizinern zur stationären COVID-19-Therapie. Und dann gibt es – das wissen alle Hörerinnen und Hörer diese Podcasts – eine S2E-Leitlinie von der DEGAM für die hausärztliche Versorgung. Und alles andere, das ist eine ganze Menge, das sind dann S1-Handlungsempfehlungen. Herr Scherer, nach zwei Jahren, ist das nicht ein bisschen mager?
Scherer: Naja, es ist schon eine Leistung, dass es das überhaupt gibt. Natürlich ist es schwierig, evidenzbasierte Leitlinien zu machen, wenn wenig Evidenz vorhanden ist. Wir hatten das Thema schon ein paar Mal. Eminenz gibt es natürlich ausreichend, Meinungen gibt es auch ausreichend und im Zweifel kriegt man auch noch einen Expertenkonsens. Und das deutsche Netzwerk Evidenzbasierte Medizin hat das Thema auch immer wieder auf der Agenda. Zum Beispiel bei der jährlichen Akademie. Bei der Letzten ging es zum Beispiel um Entscheidungen bei Evidenzmangel. Und problematisch ist bei der gesamten Entwicklung sicherlich auch ein Mangel an politischem Willen, klinisch relevante Fragestellungen schnell und pragmatisch zu bearbeiten. Es gibt viel Förderung in die Grundlagenforschung. Es gibt viel Förderung in die Hightech-Forschung, aber weniger in versorgungsnahe Alltagsfragen, die man in der Every-Day-Practice so braucht. Und da beschränkt sich dann Vieles natürlich auf Trial and Error. Also wir sind ein lernendes System, aber könnten wahrscheinlich etwas mehr und etwas besser lernen.
Nößler: Da noch mal nachgehakt mit der Förderung für Forschung. Jetzt an diesem Donnerstag, nur eines von ganz vielen Beispielen, das ist dann der 13.01., wird bekanntgegeben, dass eine Mäusestudie vom BMBF mit ein paar Millionen Euro gefördert wird für eine Mikro-RNA gegen Lungen-COVID. Und da gibt es immer wieder Beispiele, dass genau solche Forschungsvorhaben präklinischer Natur gefördert werden, dann auch klinische Versuche gefördert werden davon. Gibt es denn Förderungen für Versorgungsforschung Richtung klinisch relevante Endpunkte?
Scherer: Nicht im ausreichenden Umfang. Ich habe auch kein Interesse daran, die Versorgungsforschung und die anderen Forschungszweige gegeneinander auszuspielen. Es braucht die Grundlagenforschung und die Differenzierung der einzelnen Virusvarianten. Und das ganze Laborgeschehen ist unglaublich wichtig. Aber es fehlt eben an pragmatischen versorgungsrelevanten Alltagsfragen, die bearbeitet werden. Also wir hatten schon sehr früh in diesem Podcast zum Beispiel das Thema der wissenschaftlichen Städtepartnerschaften, wo man verschiedene Konzepte mal gegeneinanderstellt, wo man unterschiedliche Maskenkonzepte in verschiedenen Schulen mal miteinander vergleicht, wo man sich diagnostische Konzepte und Präventionskonzepte in Alten- und Pflegeheimen mal anschaut und da mal so quasi experimentelle Designs macht. Also Fragen, die man wirklich alltäglich braucht. Da haben wir einiges liegenlassen.
Nößler: Da sind wir immer noch eher reaktiv auf politischer Ebene. Da hätten wir vielleicht schon früher ein paar Mark bereitstellen können, um solche Forschungsvorhaben zu fördern. Herr Scherer, Sie haben jetzt gesagt, ja, Evidenz zu generieren, ist schwierig. Und evidenzbasierte Leitlinien zu entwickeln, ist noch schwieriger, wenn man wenig Evidenz hat. Und haben auch auf die letzte Akademie des Netzwerks Evidenzbasierte Medizin verwiesen. Jetzt wollen wir uns heute mal mit zwei rezenten Publikationen, die natürlich immer in den Shownotes verlinkt sind, beschäftigen, die sich auch mit dieser Frage beschäftigen. Die eine hat mal so ein bisschen Leitlinien bewertet, nämlich die Qualität von Leitlinien, die es zu COVID gibt. Und die zweite Auswertung könnte Evidenz geliefert haben. Das ist die Hamburg City Health Study. Da wollen wir gleich mal reinschauen. Herr Scherer, ich würde sagen, wir beginnen mit dem Ersten, nämlich mit der Leitlinienbewertung. Das ist eine Publikation von Autoren des CEOsys, das ist das COVID-19-Evidenz-Ökosystem. Und die haben jetzt im Deutschen Ärzteblatt, das ist online vorab veröffentlicht – wie gesagt, verlinkt in den Shownotes – eine Bewertung internationaler Leitlinien vorgenommen. Und zwar, das ist wichtig zu wissen an der Stelle, zur intensivmedizinischen Therapie. Und ich zitiere daraus mal zwei Sätze aus dem Abstrakt. Das eine ist: „Viele Empfehlungen basieren auf eine unzureichende Evidenzlage. Einige sind widersprüchlich.“ Und das zweite Zitat: „Aufgrund des anhaltenden Mangels an starken Evidenzen besteht weiterhin Forschungsbedarf.“ Herr Scherer, ich glaube, die Autoren haben Sie gerade zitiert oder andersrum. Also wie gesagt, es geht um Intensivmedizin. Aber was teilen die Autoren uns hier auch auf der Metaebene mit?
Scherer: Dass sie mit dem gleichen Problem konfrontiert sind, dass es eine hohe Publikationsdichte gibt, dass die Qualität oft zu wünschen übrig lässt, dass es oft einen fehlenden Peer-Review gibt. Dass man mit Preprints zu tun hat. Und ein weiterer Befund war, dass die Leitlinien, die sie sich angeschaut haben, sich auch deutlich in ihrer Aktualität unterschieden haben. Das methodische Hauptergebnis war, dass das ganze Feld doch methodisch ziemlich inhomogen war. Dass die jeweiligen Leitlinien auch einen unterschiedlichen Revisionsstand hatten. Und dass dann die Neueren dann auch auf einem methodisch höheren Niveau lagen. Also das gleiche Problem. Ich glaube gar nicht, dass der eine den anderen jetzt zitiert hat. Sondern dass das Problem dasselbe ist, dass die Entwicklung zu schnell ist. Und die evidenzbasierte Medizin oft nach hinten schaut beziehungsweise schauen muss.
Nößler: Muss, genau. Weil sie ja erst mal auswertet, was man an Daten hat. Apropos Preprints, das sprechen Sie an, sprechen aber auch die Autoren dieser Arbeit im Ärzteblatt an. Wenn man jetzt bei MedArchive, BioArchive, das sind ja so die zwei großen Plattformen unter anderem, wenn man sich da mal Arbeiten anschaut, die ein Jahr alt sind oder teilweise sogar von Ende 2020, da ist es ja normalerweise so, sobald diese Preprints dann ein ordentliches Peer-Review in irgendeinem Journal bekommen haben und dort veröffentlicht sind, dass dann dorthin verwiesen wird, mit dem Hinweis, die finale Version könnt ihr bitte hier lesen. Wenn man sich da mal so umschaut und ein paar Arbeiten noch mal betrachtet, die haben es teilweise nie – teilweise ist gut – wahrscheinlich die Mehrzahl hat es nie zu ordentlichen Peer-Review-Publikationen geschafft. Ist es nicht auch eine Gefahr?
Scherer: Das ist sicherlich eine Gefahr. Weil wir hier in Qualitätsprobleme reinlaufen. Und diesen Peer-Review, den gibt es ja auch nicht ohne Grund. Das ist ein Begutachtungssystem. Man hat manchmal vier, sogar fünf Gutachter, die die Schwächen in den Studien identifizieren und dann manch eine Studie es zu recht auch nicht in die Publikation schafft. Der Editor, der Herausgeber schaut sich das an, trifft auf Basis der Peer-Reviews dann eine Entscheidung. Und oft fällt die dann auch zu recht negativ aus. Und das ist auch gut so.
Nößler: Jetzt haben wir eben diese rasche Entwicklung. Eine hohe Publikationsdichte, wo wir bei PubMed Zehntausende Ergebnisse zu diesem Kontext SARS-CoV-2 finden können. Und das Problem, was Sie genannt haben, Herr Scherer, Aktualität. Jetzt noch mal Hand aufs Herz, auch das Thema ist nicht neu. In so einer Pandemie, da kommt doch kein Leitlinienentwickler hinterher. Wie lange dauert denn normalerweise eine Leitlinie? Zwei, drei Jahre?
Scherer: Eine S3-Leitlinie vier, fünf Jahre in der Regel. Und das Grundproblem – Sie haben es eben schon kurz angesprochen – ist, dass das System der evidenzbasierten Medizin retrospektivisch funktioniert. Das heißt, man schaut zurück, schaut sich die Daten aus einem in der Vergangenheit liegenden Geschehen an. Je mehr Zeit man dafür hat, desto besser. Deshalb – und das haben wir versäumt bislang – muss man sich genau überlegen, bei welchen Entscheidungen und Fragestellungen hat man die Zeit, dies zu tun, sich das in Ruhe anzuschauen. Und bei welchen Entscheidungen hat man diese Zeit eben nicht. Ich würde es einfach mal Evidenz-Triage nennen. Ich glaube nicht, dass es diesen Begriff gibt. Vielleicht erfinden wir den dann jetzt einfach mal. Also Evidenz-Triage soll bedeutet, welche Fragestellung hat wie viel Zeit. Und auch hinsichtlich dieser Triage gab es kein Konsens. Nehmen Sie mal das Beispiel der Kinderimpfung, wo manche politische Entscheidungsträger meinten, es müsse so schnell gehen, dass man auf Datenauswertung nicht warten müsse. Die STIKO dann aber anderer Ansicht war, sehr nachvollziehbare anderer Ansicht war. Aber auch die STIKO ist viele Kompromisse eingegangen und hat sich an vielen Stellen nicht die Zeit gelassen wie unter normalen Bedingungen. Also insgesamt würde ich sagen, Herr Nößler, fehlte uns eigentlich in der Pandemie ein Konsens darüber, bei welchen Entscheidungen man sich Zeit nehmen konnte und bei welchen nicht. Und viele politische Entscheidungen, zum Beispiel zur Kontaktreduktion konnten man beispielsweise nicht warten und mussten dann natürlich zwangsläufig im evidenzfreien Raum stattfinden und waren dann auch richtig.
Nößler: Dann gibt es natürlich auch durchaus die Frage von Plausibilitäten, ex ante, die man sich stellen kann, die natürlich die Politik dann auch sich stellt, Kollateralnutzen, Kollateralschäden, die da ein Stück weit auch, wenn, dann zwischen Tür und Angel abgewogen werden müssen. Noch mal so ein bisschen mit Art auf die Genese dieser Leitlinien, die ja nun doch irgendwie wichtig sind – und da reden wir nicht nur von rein klinischen Leitlinien, sondern tatsächlich auch von idealerweise natürlich epidemiologischen Leitlinien, die auch so eine Art Beratungsinstrument durchaus sein könnten für Maßnahmen, die wir als Gesellschaft treffen sollten. Wenn Sie jetzt diesen Begriff Evidenztriage da einbringen, nämlich zu beantworten, welches Thema hat wie viel Zeit, wem müssen wir uns zuerst widmen, was ist ein Quick-Win, um mal diesen Begriff zu verwenden. Und dann gleichzeitig schaut, Herr Scherer, wie viele Gruppierungen auch parallel mit dem Generieren von Leitlinien beschäftigt sind. Jede Fachgesellschaft macht ja auf ihre Weise Leitlinien. Dann gibt es Zusammenarbeit, Kollaboration, und das Ganze findet national statt supranational und dann international und irgendwie in jedem Land wieder. Das heißt, wahnsinnig viel Know-how, viel Kompetenz und auch viel professionelle ärztliche Arbeitszeit wird im Zweifel vielleicht auch parallel eingesetzt. Wird da nicht auch ein bisschen Ressource verschwendet?
Scherer: Das Problem haben wir schon länger. Da können wir insgesamt pragmatischer werden, dass das Rad an vielen Stellen mehrfach erfunden wird, dass man vielleicht Leitlinienadaptation aus dem Ausland macht, da gebe ich Ihnen völlig recht. Allerdings ist es ja nicht so, dass nicht auch auf internationale Gremien geschaut würde. Also auch unsere Impfkommission schaut natürlich zur amerikanischen Impfkommission. Auf internationaler Ebene gibt es da schon auch Vernetzungen. Aber ein Problem ist sicherlich dann auch das Problem der Evidenzgenerierung. Das heißt, wir müssen in das Richtige investieren. Wir hatten das Thema eben schon und die Alltagsfragen, die sind zum Teil zu kurz gekommen, unterschiedliche Maskenkonzepte, Hygienekonzepte, FFP2-Masken versus andere Masken. Also hier hätte man sehr schöne pragmatische Designs machen können. Städtepartnerschaften oder verschiedene Schulen gegeneinander und so weiter.
Nößler: Wir hatten ja in der vergangenen Episode, das war die Episode, die am 30.12. erschienen war, einen Jahresrückblick. Da haben wir noch mal so ein bisschen das Jahr Revue passieren lassen. Herr Scherer, erinnern Sie sich an die Passage aus dem Dezember, worüber wir da gesprochen haben unter anderem?
Scherer: Das Thema Kommunikation mit Herrn (Emami).
Nößler: Ja. Und im Jahresrückblick hatten wir auf den Dezember noch ein Ereignis dann fokussiert. Am 8. Dezember war was passiert.
Scherer: Die Vereidigung unseres neuen Bundeskanzlers.
Nößler: Perfekt. Und die Angelobung des neuen Gesundheitsministers. Richtig. Karl Lauterbach, Epidemiologe und Freund der evidenzbasierten Medizin. Wäre das vielleicht, wenn Sie jetzt ein Wunsch offen hätten für das neue Jahr, Herr Scherer, Richtung Kollege Lauterbach, ein Wunsch an ihn, dass man sagt: Bitte tue da was beim Generieren von Evidenz. Hilf uns.
Scherer: Es ist nicht ja nicht allen das Bundesgesundheitsministerium, sondern vielmehr auch das Bundesministerium für Bildung und Forschung. Und vielleicht müssten das manchmal auch einfach die Länder und die Kommunen sein, die da geschickte Dinge machen. Wir hatten das Thema der Städtepartnerschaften, der wissenschaftlichen Städtepartnerschaften. Jetzt quizze ich Sie mal: Wann, Herr Nößler, haben wir das zum ersten Mal angesprochen?
Nößler: Das müsste im Frühjahr oder im Sommer 2020 gewesen sein.
Scherer: Im Frühjahr 2020, also noch sehr früh in der Pandemie, haben wir uns überlegt, was man machen könnte an quasi experimentellen Studien, wie pragmatische wissenschaftliche Städtepartnerschaften aussehen könnten. Da haben wir sehr viele Ideen bewegt. Und ich hätte mir gewünscht, dass manch einer da etwas besser zugehört hätte.
Nößler: Nicht nur Friedrichstraße in Berlin, nämlich Ministerium von Lauterbach kann da helfen. Aber im Zweifel kann man es ja trotzdem in der Politik immer wieder auch mal platzieren. Herr Scherer, Sie haben gerade gesagt: Naja, wir können mit Leitlinienarbeit schon durchaus pragmatischer sein, sollten pragmatischer sein. Und die begrenzte Ressource Know-how und Personen, die man überhaupt da hat, dann auch klug einsetzen. Und Sie haben als Beispiel Leitlinienadaptation genannt. Also wie es auch Usus ist, sich im Ausland umschaut und guckt, was hat man da herausgefunden und dann kann man das übernehmen. Mit Blick auf so kulturelle Unterschiedlichkeiten: Ist das nicht dann auch ein Risiko, wenn man jetzt eine Leitlinie übernimmt, die aus einem anderen Versorgungsalltag herrührt, die andere kulturelle, vielleicht sogar physiologisch unterschiedliche Dinge, ich weiß es nicht. Also Hochdruck ist so eine Sache. Wir hatten es bei den Statinen, dass es da auch andere Kulturen gibt. Da muss man schon aufpassen, oder?
Scherer: Deshalb heißt es ja auch Leitlinienadaption. Das heißt, da ist der Anpassungsvorgang mit drin. Man könnte bei der Evidenzrecherche und der Aufbereitung der Evidenz sich auf die Plattform konzentrieren und dann natürlich die Anpassungen auf die lokale Situation in dem jeweiligen Land machen. Da kann man auf jeden Fall effizienter werden. Und die einzelnen Leitlinienkommissionen oder die Leitliniengruppen der unterschiedlichen medizinischen Fachgesellschaften haben ja dann auch ihre Leute, die aus der Praxis kommen, aus der Klinik kommen und die diese Anpassung dann auch vornehmen können und sagen können: Ja, das funktioniert hier so bei uns.
Nößler: Gut. Dann haben wir über das Thema Leitlinienadaptation gesprochen. Glauben Sie, dass wir zum Jahresende 2022, was den Versorgungskontext, das klinische, angeht, klüger und klarer sehen?
Scherer: Es kommt darauf an, wie viel neue Fragen noch dazukommen. Wenn wir eines gelernt haben in dieser Pandemie ist es, dass wir immer wieder mit sehr vielen neuen Fragen konfrontiert werden. Wir haben sehr viel gelernt, aber wir haben auch sehr viele neue Aufgaben bekommen. Meinen optimistischen Jahresausblick habe ich schon gemacht. Wollen wir den mal so stehenlassen und vielleicht schauen wir dann im Dezember diesen Jahres wieder zurück.
Nößler: Okay, das werden wir tun. Dann haben Sie ja schon mal gespoilert den Jahresrückblick 2022. Das merken wir uns dann. Herr Scherer, lassen Sie uns noch auf eine zweite Arbeit schauen. Das ist die HCHS, die Hamburg City Health Study, jedenfalls ist es eine Auswertung mit der HCHS. Vielleicht – Disclaimer müssen wir an der Stelle einbauen – Sie haben auch mit dieser Kohorte zu tun. Vielleicht können Sie uns zunächst mal kurz erklären, was ist das für eine Kohorte, was ist das für eine Studie?
Scherer: Die Hamburg City Health Study, HCHS, ist die größte lokale Gesundheitsstudie der Welt. Und findet auf Initiative des Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf statt. Der Schirmherr ist der erste Bürgermeister der Stadt Hamburg, Peter Tschentscher. Der Chef der Studie ist Stefan Blankenberg, unser führender Kardiologe am UKE. Und in diesem Projekt arbeiten über 30 Kliniken und Institute des UKE zusammen, unter anderem auch Institut und Poliklinik für Allgemeinmedizin. Und das ist wahrscheinlich der Interessenskonflikt, den ich hier benennen muss.
Nößler: Okay. Dann haben wir den geklärt. Können Sie noch sagen, wie viele Menschen da insgesamt in dieser Kohorte sind und was da so für Untersuchungskontexte befragt werden?
Scherer: Ziel der HCHS ist es, das komplexe Netzwerk Umwelt, Biologie, Genetik und Lebensstil zu verstehen und was hinter diesen Erkrankungen steht. Da geht es sehr um die Risikofaktoren für die häufigsten Volksleiden, wie Herzinfarkt, Vorhofflimmern, Schlaganfall oder Demenz. Auch im Grunde genommen 26 Erkrankungen von Kopf bis Fuß, Depression, Karies Parodontose, HPV-Infektionen, die verschiedenen Herzerkrankungen, Nierenerkrankungen, Prostata, Haut, Osteoporose, Thrombose, pAVK. Und Ergebnis dieser ganzen Bemühungen soll eben sein, die individualisierte und frühzeitige Behandlung für alle zu verbessern. Also es ist ein präventiver Ansatz, der hinter dieser Studie steht. Und besonders Menschen mit erhöhten Risikowerten sollen frühzeitig geschützt und gegebenenfalls auch rechtzeitig therapiert werden können.
Nößler: Gut. Dann haben wir jetzt nämlich die Hoffnung, jetzt schauen wir mal rein, es gibt nämlich tatsächlich eine rezente Publikation, die mit dieser Kohorte, mit gematchten Probanden aus dieser Kohorte arbeitet, und die ist tatsächlich von UKE-Autoren. Sie haben schon den Chefkardiologen um UKE genannt, der die Studie leitet. Wir verlinken die. Die Arbeit ist im European Heart Journal veröffentlicht worden. Mal ganz kurz: Was haben die da gemacht? 443 SARS-CoV-2-Infizierte, haben die in Median 9,5 Monate nachbeobachtet und mit 1.328 Kontrollen aus der HCHS gematcht. Vielleicht noch zu den Infizierten: 93 Prozent waren nicht hospitalisiert. Also deckt sich so ein bisschen mit dem, was man auch hier aus der Versorgung insgesamt weiß. Und herausgekommen ist – wenn ich das mal so platt mit meinen Worten zusammenfasse –, wer eine milde bis moderate Infektion hatte, der zeigt in dieser Auswertung Zeichen subklinischer Multiorgan-Affection, Betroffenheit, wie übersetzt man das, Befall. Jedenfalls pulmonal, kardial und was das Thema betrifft, renal – das haben sie gefunden. Herr Scherer, was ist dann so im Detail das Ergebnis? Was ist da affected?
Scherer: Es wurden sich unterschiedliche Parameter angeschaut des pulmonalen, kardialen, vaskulären, renalen und neurologischen Systems. Es sind auch einige Parameter auffällig gewesen. Der Atemwegswiderstand oder Biomarker NT-pro-BNP war auffällig, Karotiden-Plaques wurden gefunden in der COVID-Gruppe oder eine schlechtere Komprimierbarkeit der femoralen Venen als ein Hinweis auf eine höhere Thrombosegefährdung und dann auch die glomeruläre Filtrationsrate als Hinweis für eine nephrologische Empfindlichkeit. Also einzelne Parameter, die darauf hinweisen, dass es hier doch eine organsystemübergreifende Affektion gibt bei Menschen, die eine leichte oder milde COVID-Infektion durchgemacht haben.
Nößler: Aber am Ende Laborwerte Surrogate.
Scherer: Es wurden keine klinischen Endpunkte untersucht, es ist auch nicht möglich. Es handelt sich um eine Querschnittstudie. Also wir haben hier keine Krankenhauseinweisungen oder Überlebungskurven, keine Kaplan-Meier-Kurven. Also Mortalität und andere Endpunkte nicht. Und wir wissen auch nicht, was das jetzt für die Langzeitgesundheit der Menschen bedeutet. Aber es sind Hinweise darauf, dass auch eine leichte und mittelgradige Infektion nicht spurlos an dem Organsystem vorübergeht.
Nößler: Das ist dann ja auch die durchaus große und berechtigte Debatte, die wir dann zu Long- und Post-COVID führen, nämlich immer auch noch die Frage: Was sind das für Langzeitfolgen, die so eine Infektion nach sich ziehen kann? Gucken wir noch mal in das hinein – also Sie sagen natürlich das methodische Design gibt das gar nicht her, dass man hier klinische Endpunkte untersucht. Es gibt also Hinweise, die man hier finden kann, Unterschiedlichkeiten. Was ich ziemlich spektakulär finde – ich setze mal diesen Begriff „spektakulär“ kursiv –, war die Conclusio der Autoren. Es gibt ein Visual Abstract, da darf man sich nicht wundern, in diesem Visual Abstract ist die Conclusio eine andere als in dem Text Abstract. Und da schreiben die ziemlich drastisch: Systematic organ screening six to nine month after mild to moderate SARS-CoV-2 infection is recommended. Das heißt, da empfehlen die ein systematisches Screening sechs bis neun Monate nach einer milden bis moderaten Infektion. Kann man das so ableiten? Weil ich meine, wir haben ja Millionen in Deutschland, die infiziert sind oder waren.
Scherer: Also vor dem Hintergrund der Tatsache, dass aktuell um die 7,5 Millionen Menschen infiziert sind – die Tendenz ist leider steigend mit einer hohen Dunkelziffer –, bedeutet das auf jeden Fall eine signifikante Skalierung des Aufwands für den Versorgungsalltag. Das heißt, dass die Screening-Anfrage – ich glaube darauf wollen Sie hinaus – dann natürlich primär auch im hausärztlichen Bereich landen. Das ist korrekt.
Nößler: Es sind eigentlich zwei Aspekte, Herr Scherer. Wäre das eine Sache, die man jetzt zusätzlich noch dann leisten kann? Und der zweite Aspekt, über den man noch mal reden müsste: Gibt die Auswertung, die wir jetzt haben, wenngleich sie noch nicht wirklich klinisch gucken konnte, die Recommendation eigentlich schon her? Können wir schon an diesem Punkt sein dieser Empfehlung? Oder müssten wir nicht eigentlich sagen: Nein, wir sind im Moment in der Hypothese-Generierung.
Scherer: Diese Studie liefert auf jeden Fall wichtige Hinweise, die ganz entscheidende Implikationen für weitere Studien hat. Und die natürlich weitere Fragen aufwirft. Also zum Beispiel die Frage, ob durch ein Screening-Programm nach sechs bis neun Monaten Post-Infektionen klinisch relevante Endpunkte positiv beeinflusst werden könnten. Und da müsste dann natürlich auch auf Parameter fokussiert werden, die keine Surrogate-Parameter sind. Oder es müsste dann auch geschaut werden in einer Folgestudie, was ist das Resultat des aufgrund des Screenings eingesetzten Mittels oder der eingesetzten Maßnahme? Das heißt, wenn ich jetzt screene, was folgt aus dem Screening? Was sind die Maßnahmen und sind diese Maßnahmen dann in ihrer Wirksamkeit evaluiert? Und wie viele Menschen muss ich screenen, um bei einem dann einen Endpunkt positiv zu beeinflussen? Das wäre dann die Number needed to Screen. Aber wenn Sie dann an das Thema Überdiagnostik denken und so weiter, dann müsste ich eigentlich auch den Number needed to Harm kennen. Das heißt, wie viele Menschen muss ich screenen, um einen durch Überdiagnostik zu schaden. Und dann muss ich die Konfidenzintervalle kennen für den geschätzten Effekt. Und natürlich auch so ein bisschen besonders ökonomisch gucken, wie aufwendig ist diese Screening-Maßnahme und könnte ich die personellen und finanziellen Mittel nicht anders einsetzen und einen deutlich größeren Nutzen erreichen, wenn ich die Zeit zum Beispiel in Menschen investiere, die multimorbide sind oder mehr Altenheimbesuche mache oder was auch immer. Also das sind viele Fragen. Und hier schließt sich wieder der Kreis zum Anfang. Und das sind natürlich Fragen, die Zeit brauchen. Und gerade, wenn ich ein aufwendiges Screening-Programm für viele Millionen Menschen in der Primärversorgung etablieren will, dann kann ich eben all diese Fragen nicht außer Acht lassen, sondern muss diese Folgestudien, die diese Fragen bearbeiten, zunächst erst mal auf den Weg bringen. Aber die Implikation für die weitere Forschung, die ist natürlich da.
Nößler: Sie haben zusammengefasst, dass die Arbeit sehr wohl eben diese wichtigen Hinweise liefert, dass es da Unterschiede gibt in diesen sogenannten Surrogate-Parametern, auf die man achten sollte. Die sind teilweise auch mit P kleiner 0,0001. Und wäre es dann nicht eigentlich folgerichtig, wenn ich das, was Sie jetzt gesagt haben, zusammenfasse, dass man eigentlich nach dieser Arbeit, die man jetzt hatte, eigentlich eine prospektive Studie aufsetzen müsste, wo man tatsächlich bei den einen, die eine Infektion hatten, so ein Screening mal aufsetzt und die dann länger beobachtet und die anderen nicht? Und dass man dann jetzt einfach damit schon mal anfängt und nicht weiter wartet. Weil das braucht ja auch wieder Zeit, so was auszuwerten. Wäre das nicht jetzt der nächste logische Schritt?
Scherer: Das wäre genau diese Implications for further research, dass man jetzt einmal eine Interventionsstudie auf den Weg bringt, indem man die eine Gruppe screent und der anderen möglicherweise (unv.) as usual macht. Und sich dann die unterschiedlichen Outcomes einmal anschaut. Und natürlich auch evaluiert, welche Maßnahmen dann aus diesem Screening erfolgen.
Nößler: Und das sollte man eigentlich jetzt dann auch schon mal überlegen, dass man so was einfach mal ansetzt, so Grüppchen bildet, Leute jetzt schon einschließt und solche Studien.
Scherer: Ja.
Nößler: Das heißt, die Studie – wäre Ihr Fazit, nehme ich hoffentlich richtig mit – gibt wertvolle Hinweise und sagt ganz klar: Wir haben hier einen klinischen Forschungsbedarf und das sollten wir jetzt vergleichen oder damit beginnen.
Scherer: Ganz genau.
Nößler: Das heißt, wir sind im Prinzip klinisch immer noch auch oft in dem Bereich, dass wir Hinweisen hinterherrennen und dass wir zunächst einmal Hinweise auch generieren. So viel zum Thema Evidenz. Was Sie eingangs gesagt haben – da schließt sich auch wieder so ein Kreis. Dennoch ist es ja so, jetzt auch mit Blick auf Omikron, Deltakron und so weiter und so fort, was da noch so kommt, dass wirklich jedes noch so kleine Paper ja dann doch medial hochgejazzt wird. Herr Scherer, das haben wir ja auch bei den neuen Therapeutika erlebt, wo es teilweise nicht mal ordentliche Publikationen zu gibt, sondern nur Pressemitteilungen von den Herstellern.
Scherer: Aber da muss ich jetzt einmal einschreiten. Weil diese sehr schöne Studie, über die wir gerade gesprochen haben, die hat zu recht sehr viel Interesse und Aufmerksamkeit bekommen. Das ist eine sehr gut gemacht Querschnittsstudie. Und die würde ich ungern in einen Topf sehen mit den Studien, die wir hier sehr oft auch sehr kritisch besprechen müssen.
Nößler: Dann ist sie eines von vielen Beispielen, das aber noch zig anderen Beispielen gegenübersteht. Ich sage mal, der Otto-Normalbürger, der kann das ja nicht zwingend unterscheiden.
Scherer: Dafür gibt es dann die unterschiedlichen Formate. Dieses Format ist vielleicht nicht für den Otto-Normalbürger. Aber es ist natürlich schon ein Unterschied, ob man ein sauberes Design hat, so wie in dieser Studie ein sehr gutes Matching, eine sehr gute Statistik, die negative Effekte des multiplen Testens ausschließt. Und wo man wirklich sagt, ja, das ist ein handwerklich gut gemachtes Piece of Evidence. Oder ob wir hier über sehr dünne Daten aus einer Pressemitteilung sprechen, von einem Medikament, das in dem Markt gedrückt werden soll. Also das sind zwei völlig andere Dinge. Und ich gebe Ihnen recht. Das kann ein Laie nicht unbedingt auseinanderhalten, muss er vielleicht auch nicht. Also dafür ist dann Ihre Zunft vielleicht zuständig oder zumindest Ihre Kollegen aus den Publikumsmedien.
Nößler: Da werden eben auch dann diese ganzen (Med)-Archive-Paper fragwürdige Aussagekraft dann hoch- und runtergejazzt. Also Unklarheiten als vermeintliche Klarheiten verpackt.
Scherer: Oder Skandale als Skandale verpackt, die gar keine Skandale sind. Wo Dinge skandalisiert werden, die eigentlich gar nicht skandaltauglich sind.
Nößler: Genau. Das erleben wir die ganze Zeit. Die Sucht nach Aufmerksamkeit. Herr Scherer, wir haben ja den Interessenskonflikt geklärt, den Sie natürlich am UKE auch haben, was die HCHS angeht. Aber das darf man dann auch hier trotzdem noch mal mitteilen, das haben Sie gerade gemacht, das ist eine handwerklich solide gemachte Arbeit – oder Sie haben gesagt, eine sehr gute Arbeit – die wertvolle, wichtige Hinweise liefert, die man sich durchaus mal angucken sollte, dass man sieht, wohin schlägt hier was aus bei den Unterschieden. Und Sie haben auch schon gesagt, wie muss es jetzt weitergehen klinisch. Naja, wer weiß? Vielleicht passiert so was dann ja auch mal im UKE, das werden wir dann abwarten, das werden wir dann sehen. Und dann auch darüber berichten.
Scherer: Und wir haben auch über Leitlinienentwicklung gesprochen. Und die Leitliniengruppen werden sich das sicher anschauen. Und dann muss man eben das innerhalb einer Leitliniengruppe bewerten. Und je mehr Folgestudien dann auch da sind, die diese Fragen, die sich daraus ergeben, bearbeiten, umso leichter wird dann auch eine Bewertung. Und da sind wir wieder beim Anfang. Es braucht eben Zeit für solche Studien und es ist keine leichte Periode, gerade für die evidenzbasierte Medizin, wirklich nicht.
Nößler: Und sie wird eventuell – diesen Begriff haben Sie kreiert, falls es ihn noch nicht gibt – auch beim Thema Evidenztriage dazulernen müssen, nämlich: Mit welcher Evidenzfrage müssen wir uns jetzt zuerst beschäftigen oder sollten wir das. Das ist doch mal eine Take-Home-Message, Herr Scherer. Wir müssen Triage auch ganz anders denken, in ganz vielen Dingen. Gut, dann sind wir für diesen Moment an dem Punkt: Wir haben gelernt heute, wir konnten mitnehmen aus der HCHS-Auswertung, dass es Signale gibt, Hinweise, dass Menschen, die nicht im Krankenhaus waren nach einer SARS-CoV-2-Infektion sehr wohl 9,6 Monate danach Zeichen organischer Natur haben können für eine Veränderung. Die große Frage ist jetzt, was bringt es, das in den Blick zu nehmen? Das muss man jetzt herausfinden. Und wir haben wieder einmal, Herr Scherer, herausgefunden, das ist mit der Evidenz und Leitlinien es gerade in einer solchen Phase nicht ganz leicht ist. Und da sollte man sich vielleicht im Vorfeld immer mal auch mit der Frage beschäftigen, welche Evidenz brauchen wir und mit welchen Fragestellungen sollten wir uns jetzt beschäftigen. Das ist so ein bisschen, ich hoffe, die korrekte Klammer des heutigen Gesprächs.
Scherer: Damit haben Sie eigentlich den Ausblick auf das Evidenzjahr gut zusammengefasst. Ergänzen könnte man ihn um den Punkt, dass wir überhaupt nicht wissen, welche Fragestellungen noch auf uns zukommen. Das ist ja auch das Reizvolle an der Forschung. Deshalb wird Forschung auch nie langweilig. Weil wir überhaupt gar nicht absehen können, welche Forschungsfragen sich noch ergeben.
Nößler: Deswegen wissen wir auch noch nicht, was im nächst Podcast drankommt, oder?
Scherer: Genau.
Nößler: Mist. Dann habe ich mir die Cliffhanger-Frage hiermit ja jetzt selbst versaut. Okay. Gut, Herr Scherer, dann bleibt mir an dieser Stelle ja soweit zunächst erst mal nur zu danken für diese erste Episode im dritten EvidenzUpdate. Ja, das ist dann halt dummerweise auch gleich das dritte Coronajahr. Wir werden schauen, dass wir da durchkommen. Wir wünschen uns wahrscheinlich allen, auch den Hörerinnen und Hörern, dass es gut ausgeht für uns alle, dass wir gut da durchkommen. Und natürlich wünschen wir uns allen und den Hörerinnen und Hörern natürlich auch ein spannendes EvidenzUpdate-Podcast-Jahr. Cliffhanger gibt es keinen, hat Martin Scherer gesagt. Dann würde ich sagen, hören wir uns wieder an gleicher Stelle und auf gleicher Welle.
Scherer: Jawohl, darauf freue ich mich. Bis dann! Tschüss!
Nößler: Tschüss!
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