Nur ein Mini-Feuerwerk für Statine bei Typ-2-Diabetes – Evidenz-Quickie
Eine TTE-Studie zur CV-Primärprävention im UK
Das alte Jahr ist fast zu Ende, das neue steht vor der Tür: es wird höchste Zeit für einen neuen Quickie! Den liefern uns pünktlich vor Silvester die Annals of Internal Medicine. Um es gleich vorwegzunehmen: Die Arbeit wird nicht den klinischen Alltag ändern, eher bestätigt sie, was kluge Leitlinien zur kardiovaskulären Primärprävention empfehlen.
Konkret geht es um die Frage, welchen Nutzen Statine bei Menschen mit Typ-2-Diabetes mellitus (T2DM) und ohne kardiovaskuläre Vorerkrankung haben. Wir reden also über Primärprävention und die Reduktion schwerer kardiovaskulärer Ereignisse und der Gesamtmortalität binnen 10 Jahren.
Ganz knapp: Bei Erwachsenen mit Typ-2-Diabetes ist eine Statin-Therapie über alle Risikostufen (nach dem britischen QRISK3-Calculator) hinweg mit moderaten, aber konsistenten Reduktionen von Gesamtmortalität und schweren kardiovaskulären Ereignissen verbunden. Das gilt selbst unterhalb der 10%-Schwelle, allerdings dort mit sehr kleinen absoluten Effekten und einer relevanten Latenzzeit, bis der Nutzen eintritt, also die Ereignisraten sinken.
Wir reden über eine große UK‑Registerstudie (ja, es ist nur eine Beobachtungsstudie, die keine Beweise liefern oder Kausalitäten zeigen kann). Bedeutsam ist die Arbeit deswegen, weil es eine große saubere Target‑Trial‑Emulation mit 10‑Jahres‑Horizont ist.
Und das Beste für alle im (Nord-)Osten: Heute stehen die SI-Einheiten am Anfang.
Das ist die Arbeit, frisch publiziert:1
Übrigens: Alle bereits erschienenen Evidenz-Quickies gibt es übersichtlich gesammelt.
Das PICO-Schema
P(opulation)
Erwachsene 25–84 Jahre,
mit Typ‑2‑Diabetes,
in britischer Hausarztversorgung (Daten von IQVIA/THIN),
ohne bekannte KHK, Infarkt, Schlaganfall, Herzinsuffizienz, Myopathie, Lebererkrankung, rheumatische Herzkrankheit, Schizophrenie oder Krebs,
Ausschluss Typ-1-Diabetes,
keine vorbestehende Statintherapie,
überwiegend weiße UK‑Bevölkerung (Baseline-Charakteristika siehe unten)
I(ntervention)
Statin‑Initiation zu definierten Baseline‑Zeitpunkten
Dosierungen/Statine nicht standardisiert, sondern anhand der realen UK‑Verordnungspraxis, überwiegend als Fixdosen
C(omparison)
Kein Statin‑Start im jeweils selben Monat („Non‑Initiation“)
Propensity‑Score‑Matching 1:4 innerhalb der vier QRISK3‑Risikostufen:
<10%, 10–19%, 20–29%, ≥30%
O(utcome)
Ereignisrisiko binnen 10‑Jahres als Intention-to-Treat (ITT) und Per‑Protocol:
Gesamtmortalität
Schwere kardiovaskuläre Ereignisse, kombiniert aus Myokardinfarkt, Schlaganfall, Herzinsuffizienz
Sekundär: Einzelendpunkte aus oberem kombinierten Endpunkt, Myopathie, Leberfunktionsstörung, erweiterte Muskel‑Endpunkte in Sensitivitätsanalysen
Design, Methode, IK, Population
Target‑Trial‑Emulation (TTE): Sequentielle „Mini‑Trials“, gestartet in jedem Kalendermonat im Zeitraum 2005–2016; jede Person, die zu den Ein- und Ausschlusskriterien passt, bekommt quasi ihren eigenen hypothetischen Mini-Trial, auch „Person‑Trial“ genannt.
Follow‑up bis 2021, mittlere Nachbeobachtung ca. 6–7 Jahre (Median 75–81 Monate); die absoluten 10-Jahres-Risiken in der ITT wurden extrapoliert mittels eines gepoolten logistischen IPCW-Modells (Inverse Probability of Censoring Weighted) – etwas für Feinschmecker, eine in Target Trials übliche Methode.2
Confounder‑Kontrolle: Umfangreiche Kovariaten (Alter, Blutdruck, LDL, non‑HDL, HbA1c, eGFR, Medikation etc.), Propensity‑Score‑Matching innerhalb der vier QRISK3‑Strata
Interessenkonflikte: Die Arbeit wurde gefördert vom chinesischen Excellent Young Scientists Fund (Hong Kong and Macau); industrielle Akteure waren nicht an der Arbeit beteiligt.
Population: Während der Einschlussperiode entsprachen in toto 4,5 Mio. Versicherte den Kriterien; nach Matching wurden 64.589, 117.630, 101.262 und 135.067 Person‑Trials in den vier QRISK3‑Strata „gestartet“, darunter waren 12.933, 23.546, 20.280 und 27.043 Personen, bei denen die Statin‑Therapie begonnen wurde, die anderen „Non-Initiators“ dienten als Kontrollen.
Die Ergebnisse
Wir geben hier nur die ITT-Ergebnisse wieder, die noch am ehesten dem Versorgungsalltag entsprechen; im Paper gibt es auch die Ergebnisse der Per-Protocol-Analyse, die noch spektakulärer aussehen, aber bspw. ein Absetzen oder eine Dosisänderung des Statins unterschlagen würden (30% der Statin-Starter setzten sie im Follow-up ab, 15% der Non-Starter nahmen im Verlauf ein Statin).
Hier also aus der ITT:
Interessant in der Arbeit ist die dargestellte Zeit bis zum Benefit: In der niedrigsten Risikogruppe (QRISK3 <10%) trennen sich die Kurven für Mortalität (Ausschnitt unten abgebildet) und schwere kardiovaskuläre Ereignisse (Figure 2 im Paper) frühestens ab 7 Jahren regelmäßiger Statineinnahme, in QRISK3 10–19% erst ab 4 Jahren:

Zu den Schäden
Myopathien kommen insgesamt sehr selten vor: absolute Risiken von 0,08 bis 0,24%, steigend mit dem QRISK3-Baseline-Risiko; die absoluten Risiken sind nicht verschieden zwischen Intervention und Kontrollen.
Leberfunktionsstörungen: Keine relevante Risikoerhöhung in irgendeinem Stratum, eher leichte Risikoreduktion in Per-Protocol‑Analysen.
In Sensitivitätsanalysen mit breiterem Muskel‑Endpunkt (inkl. Myalgie) zeigte sich ein kleiner absoluter Anstieg von muskuloskelettalen Beschwerden (ca. +1% über 10 Jahre), ohne klare Gefährdungslage.
Stärken und Schwächen
Erst das Schwache:
Die Arbeit bleibt eine Beobachtungsstudie, die trotz Matching und IPCW ein Residual‑Confounding haben kann und sowieso keine kausale Beweisführung erlaubt, sondern nur Hinweise liefert.
Die absoluten Effekte sind bei niedrigen Risiken gering.
Die Statin-Gabe ist nicht genauer definiert, weder werden einzelne Substanzen angegeben noch Dosierungen (das Supplement-Material stand vor Embargo-Ablauf nicht zur Verfügung).
Herzinsuffizienz kann den kombinierten Major-CVD-Endpunkt „verwässern“.
QRISK3 ist nicht für die deutsche Bevölkerung validiert, die Übertragbarkeit begrenzt (siehe unten).
… und jetzt das Stärkere:
Explizite Target‑Trial-Emulation einer Primärpräventions‑Studie (inkl. ITT‑/PP‑Schätzung), die typische Beobachtungs‑Biases (immortal time, selection bias) reduzieren kann.
Große, repräsentative Primärversorgungs‑Datenbank (UK‑Hausarzt‑Daten, IMRD/THIN) mit guter Validierung für kardiovaskuläre Endpunkte, außerdem eine lange Nachbeobachtung (6-7 Jahre).
Feine Risikostratifizierung: QRISK3 als in UK gut validiertes Tool, ermöglicht eine hoch differenzierte Betrachtung niedriger, mittlerer und hoher 10-Jahres-CV-Risiken.
Ein paar Einordnungen
In der Arbeit fehlen wie geschildert formale Dosierungsangaben zu den Statinen, so dass sich die Therapieintensität nicht nachzeichnen lässt. Eine frühere Arbeit aus Wales hat allerdings gezeigt, dass bis 2016 in der Primärprävention Simvastatin mit 89% (meist 40 mg) das dort am meisten verordnete Statin war, gefolgt von Atorvastatin (v.a. 10 und 20 mg).3 Die einschlägige NICE-Guideline empfiehlt im UK bei (oder ohne) Typ-2-Diabetes und einem 10-Jahres-Risiko ≥10% Atorvastatin 20 mg.4
Tja, und dann die Risikokalkulatoren: QRISK3 ist bekanntlich für Deutschland keine Option, hierzulande verwenden wir nach der neuen S3-KVP-Leitlinie arriba (basierend auf Framingham), SCORE2 oder PROCAM. Eine dänische Arbeit hat 2022 gezeigt, dass QRISK3 tendenziell höhere Risiken ermittelt als SCORE2, und dass eine QRISK3-Risikokategorie von 10% eher der SCORE2-Kategorie von 5% entsprechen könnte.5
Key takeaways
Die vorliegende Arbeit verändert nicht den Praxisalltag und stellt auch Leitlinien-Empfehlungen nicht in Frage, aber sie liefert zusätzliche Indizien und Hinweise für die Abwägung und das Shared Decision Making:
Bei QRISK3 <10% war ein Nutzen nur bei LDL ≥2,6 mmol/l (≈ 100 mg/dl) oder non‑HDL ≥3,4 mmol/l (≈ 130 mg/dl) nachweisbar.
Ergo: Typ-2-Diabetes heißt nicht „Statin für alle“, es ist abhängig vom Lipidprofil.Umgedreht wird bestätigt: Bei Typ-2-Diabetes mit gutem Lipidprofil + niedrigem Gesamtrisiko kein dogmatisches „Statin muss sein“, sondern wenn überhaupt SDM.
Bisherige (ältere) primärpräventive Statin-RCT bei Typ-2-Diabetes (HPS6 mit Simvastatin 40 mg, CARDS7 und ASPEN8 mit Atorvastatin 10 mg) hatten eher ältere Probanden ohne explizite kardiovaskuläre Risikostratifikation. Hier wird erstmals gezeigt, dass sich auch bei QRISK3 <10% nach 10 Jahren ein kleiner, aber statistisch signifikanter Benefit ergibt bei erhöhtem LDL.
T2DM‑Patient:innen mit moderatem bis hohem CV‑Risiko (QRISK3 ≥10%) und erhöhtem LDL profitieren von Statinen: mit einer absoluten Risikoreduktion zwischen 2–4% binnen 10 Jahren für Tod jeder Ursache und schwere Kardio-Ereignisse.
Einen guten Rutsch, alles Gute und Gesundheit fürs neue Jahr!
Literatur
Yan VKC, Blais JE, Gamble J-M, et al. Effectiveness and Safety of Statins in Type 2 Diabetes According to Baseline Cardiovascular Risk. Ann Intern Med Published Online First: 29 December 2025. doi: https://doi.org/10.7326/annals-25-00662
Braitmaier M, Didelez V. Emulierung von „target trials“ mit Real-world-Daten. Prävention Gesundheitsförderung 2022;1–8. doi: https://doi.org/10.1007/s11553-022-00967-9
Protty MB, Lacey A, Hayes J, et al. Statins for primary prevention in practice: clinical use in Wales and the NICE guideline effect. Br J Clin Pharmacol 2016;82(3):892–4. doi: https://doi.org/10.1111/bcp.13014
Cardiovascular disease: risk assessment and reduction, including lipid modification. NICE guideline NG238. 2023. https://www.nice.org.uk/guidance/ng238 (accessed 26 Dec 2025).
Mortensen MB, Tybjærg-Hansen A, Nordestgaard BG. Statin Eligibility for Primary Prevention of Cardiovascular Disease According to 2021 European Prevention Guidelines Compared With Other International Guidelines. JAMA Cardiol 2022;7(8):836–43. doi: https://doi.org/10.1001/jamacardio.2022.1876
Collins R, Armitage J, Parish S, et al. MRC/BHF Heart Protection Study of cholesterol-lowering with simvastatin in 5963 people with diabetes: a randomised placebo-controlled trial. Lancet 2003;361(9374):2005–16. doi: https://doi.org/10.1016/s0140-6736(03)13636-7
Colhoun HM, Betteridge DJ, Durrington PN, et al. Primary prevention of cardiovascular disease with atorvastatin in type 2 diabetes in the Collaborative Atorvastatin Diabetes Study (CARDS): multicentre randomised placebo-controlled trial. Lancet 2004;364(9435):685–96. doi: https://doi.org/10.1016/s0140-6736(04)16895-5
Knopp RH, d’Emden M, Smilde JG, et al. Efficacy and Safety of Atorvastatin in the Prevention of Cardiovascular End Points in Subjects With Type 2 Diabetes. Diabetes Care 2006;29(7):1478–85. doi: https://doi.org/10.2337/dc05-2415



