Depression & Rückfall-Prophylaxe: Langsames + begleitetes Absetzen so wirksam wie Antidepressiva – Evidenz-Quickie
Große Netzwerk-Metaanalyse stärkt Deprescribing
Das heutige Evidenz-Quickie führt uns (endlich!) einmal nicht ins Pankreas oder durch den Magen, sondern direkt ins Hirn: Es geht um die Frage, welche Art des Absetzens von Antidepressiva bei Personen während der Remission einer Depression am besten das Risiko für Rezidive senkt.
tl;dr: Das langsame Absetzen (Tapering) von Antidepressiva in Kombination mit psychotherapeutischer Unterstützung ist genauso wirksam wie die Fortführung der antidepressiven medikamentösen Therapie. Es gibt aber (wie immer) ein paar offene Fragen.
Das jedenfalls ist das Ergebnis eines in diesen Minuten veröffentlichten systematischen Reviews samt Netzwerk-Metaanalyse, erschienen im Lancet Psychiatry. Die Gruppe um Debora Zaccoletti von der Universität Verona spricht davon, dass es („to our knowledge“) die erste Netzwerk-Metaanalyse zu dieser Fragestellung ist. Die Arbeit ist ohne Sponsoring und investigator initiated.1 Außerdem gibt es zu der Publikation einen begleitenden Kommentar2 von Jonathan Henssler, Psychiater und Psychotherapeut an der Charité und dort Leiter der AG Evidence-Based Mental Health.
Über diese Arbeit reden wir:
Übrigens: Alle bereits erschienenen Evidenz-Quickies gibt es übersichtlich gesammelt.
Bevor wir zur Arbeit kommen, wollen wir heute eine kleine Umfrage versuchen, wie das Absetzen von Antidepressiva bei Ihnen und euch bislang im klinischen Alltag gehandhabt wird (keine Sorge, die Antworten werden gänzlich anonym erhoben):
Aber zur Publikation.
Die Arbeit von Zaccoletti et al.
Fragestellung
Wie wirksam sind verschiedene Strategien zum Absetzen von Antidepressiva bei remittierter Depression oder Angststörung im Vergleich zur Fortführung der medikamentösen Therapie und im Vergleich untereinander?
Primärer Endpunkt war jeweils die Rückfallrate bei Follow-up-Ende.
Population
76 randomisierte klinische Studien haben sie gefunden mit insgesamt 17.379 Erwachsenen, davon 60 RCTs zu remittierter Major-Depression (78,9%) und 16 Studien zu Angststörungen
63 der Studien (82,9%) waren doppelt verblindet
47 (61,8%) waren industriefinanziert
nur 7 der Studien (9%) wurden auch in D durchgeführt, insgesamt 40 wurden (auch) in europäischen Staaten (inkl. UK) durchgeführt
im Mittel hatten die Studien 228,7 Probanden (SD ± 150,6)
Mittleres Alter war 45,2 Jahre (± 15,2 J.)
Weiblich waren im Mittel 67,5% (± 12,9)
Weiße machten im Mittel 87,9% der Studienpopulationen aus (± 8,1)
Fast alle Studien (94,7%) fanden in ambulanten Settings statt
71% der Studien (n = 54) wurde ab dem Jahr 2000 publiziert
meist verordnet wurden SSRI (40,1%) und SNRI (23,0%)
Follow-ups betrugen im Mittel rund 11 Monate
Interventionen
Abruptes Absetzen
schnelles Tapering (≤4 Wochen)
langsames Tapering (>4 Wochen)
Dosisreduktion (≤50% Minimaldosis)
Fortführung in Standarddosis
jeweils mit oder ohne strukturierte psychologische Unterstützung:
Achtsamkeitsbasierte Kognitive Therapie (MBCT): 3,1% der Probanden
Präventive kognitive Therapie (PCT): 1,2%
Kognitive Verhaltenstherapie (CBT): 0,6%
Das Netzwerk
Heraus kamen Vergleiche verschiedener Behandlungsstrategien:

Wichtige Ergebnisse
Gegenüber dem abrupten Absetzen von Antidepressiva ist das Rückfallrisiko signifikant niedriger bei
Fortführung der Standarddosis + Psychotherapie:
RR 0,40 (95%-CI 0,26–0,61) – NNT ≈ 4,3Fortführung der Standarddosis ohne Psychotherapie:
RR 0,51 (95%-CI 0,46–0,58) – NNT ≈ 5,3Langsames Absetzen (Tapering) + Psychotherapie:
RR 0,52 (95%-CI 0,38–0,72) – NNT ≈ 5,4Dosisreduktion:
RR 0,62 (95%-CI 0,42–0,92) – NNT ≈ 6,8
Bzw. die Vergleiche hier in hübsch zusammengestellt:
Mit anderen Worten
Langsames Absetzen + Psychotherapie ist im Rückfallschutz vergleichbar mit der Fortführung der antidepressiven Medikation.
Langsames Absetzen ohne Psychotherapie ist nicht sicher besser als Abruptstopp.
Nebenwirkungen, Dropout‑Raten und (in den Studien teils aber nur unzureichend erfasste) Entzugssymptome unterscheiden sich zwischen den Strategien kaum. (siehe Limitationen unten)
Hier die Rezidivrisiken nach Geschwindigkeit des Absetzen noch hübsch dargestellt:
Zwei wichtige Limitationen
Neben vielen erwartbaren Einschränkungen – bspw. zwischen den Studien verschiedenen Klassifikationen (u.a. arbiträre Einteilungen in „fast“ vs. „slow“), eine moderate Heterogenität der Studien, nur wenige Arbeiten und nur wenige Probanden mit psychotherapeutischer Intervention – sind zwei Einschränkungen sehr relevant:
Die mittlere Follow‑up‑Dauer betrug etwa 46 Wochen. Aussagen zur Wirksamkeit über das 1. Jahr nach Absetzen hinaus sind nicht möglich.
In vielen der Studien wurden mögliche Absetz‑/Entzugssymptome gar nicht oder nur sehr rudimentär erfasst; häufig fehlten standardisierte Skalen oder klare Definitionen. Dadurch lässt sich nicht verlässlich unterscheiden, ob „Rückfälle“ tatsächlich neue depressive Episoden oder (teilweise) Ausdruck von Entzugssymptomen sind, was die Interpretation der Rückfallraten und den Vergleich der Strategien (v.a. abrupt vs. Tapering) einschränkt.
Fazit für die Praxis
Der entscheidende Neuigkeitswert dieser Arbeit ist, dass es wohl die größte und methodisch strengste Netzwerk‑Metaanalyse zum Deprescribing von Antidepressiva ist. Sie präzisiert frühere, bis dato allerdings unsichere Befunde zur Tapering-Art.
Ein Cochrane-Review von 20213 bspw. moniert die nur „relativ wenigen Studien“ und konnte „keine festen Schlussfolgerungen über die Auswirkungen und die Sicherheit der bisher untersuchten Ansätze ziehen“. Ein Problem sahen die Autoren seinerzeit darin, dass in vielen Studien Entzugserscheinungen mit Rückfällen verwechselt worden sein könnten (Confounder!).
Die neue Arbeit bestätigt zumindest, dass der Hauptschaden beim Deprescribing von Antidepressiva vor allem durch einen abrupten Stopp oder zu schnelles Tapering entstehen dürfte.
Die Arbeit zeigt auch, dass Psychotherapie der Schlüssel sein kann, um das Absetzen sicherer zu machen. Das freilich kollidiert, wie Editorialist Henssler schreibt, mit den begrenzten Möglichkeiten in unserer Versorgungsrealität.
Ergo
Der Review ist kein Plädoyer fürs breite Deprescribing, es ist aber eines für ein „Mehr als Medikation“ (Henssler).
Die Arbeit unterstreicht den Stellenwert eines sorgfältig geplanten, langsam durchgeführten Deprescribings und zeigt, dass Tapering eine vulnerable Phase ist.
Sie bestätigt: Abruptes oder zu schnelles Absetzen sollte vermieden werden.
Bei anhaltender Remission und Absetz‑Wunsch kann langsames, individuell angepasstes Tapering kombiniert mit strukturierter Psychotherapie als begründbare Alternative zur Fortführung der Medikation in die gemeinsame Entscheidungsfindung einbezogen werden.
Leitlinien und Praxisempfehlungen sollten Deprescribing mit regelmäßigen Therapie‑Reviews, klaren Tapering‑Schemata und Zugang zu psychotherapeutischer Begleitung expliziter als heute abbilden.4
Einen schönen Donnerstag, alles Gute – und bis demnächst!
Literatur
Zaccoletti D, Mosconi C, Gastaldon C, et al. Comparison of antidepressant deprescribing strategies in individuals with clinically remitted depression: a systematic review and network meta-analysis. Lancet Psychiatry 2026;13:24–36. doi: 10.1016/s2215-0366(25)00330-x
Henssler J. More than medication. Lancet Psychiatry 2026;13:3–4. doi: 10.1016/s2215-0366(25)00361-x
Leeuwen EV, Driel ML van, Horowitz MA, et al. Approaches for discontinuation versus continuation of long-term antidepressant use for depressive and anxiety disorders in adults. Cochrane Database Syst Rev 2021;2021(4):CD013495. doi: 10.1002/14651858.cd013495.pub2
Sørensen A, Jørgensen KJ, Munkholm K. Clinical practice guideline recommendations on tapering and discontinuing antidepressants for depression: a systematic review. Ther Adv Psychopharmacol 2022;12:20451253211067656. doi: 10.1177/20451253211067656




Bleibt trotzdem noch die Frage: sind Antidepressiva nach einigen Monaten der Therapie bei dann milden Symptomen effektive Medikamente, die die Krankheit therapieren und deshalb fortgeführt werden sollten oder ist es ein Reboundphänomen, da ein abruptes Absetzen eine körperliche (und psychische) Abhängigkeit der Antidepressiva verursacht